09.11.2020 - Annette Scholz
„Kannst du Emma heute von der Schule abholen?”, erreichte mich unerwartet eine Nachricht von Emmas Vater Hugo, als ich erst gefühlte fünf Minuten im Büro war und noch nicht einmal ansatzweise ein Viertel meiner täglichen Festivalarbeit erledigt hatte. „Mir geht es, als hätte mich ein Laster überrollt, habe Husten und wohl auch Fieber”, schrieb er weiter.
„Auch das noch!”, rief ich aus, sodass Luis und Gaby aufschreckten, „Emmas Vater hat schon wieder Bedenken, dass er Corona hat”, fügte ich hinzu. „Er ist zum dritten Mal seit dem Lockdown erkältet und hat Halsschmerzen. Es ist ja auch kein Wunder, in seinem Restaurant ist er dem Virus ja schließlich auch mehr oder weniger ausgesetzt, so viele Leute wie dort ein- und ausgehen. Jetzt war Emma gerade bei ihm. Ich hoffe, es ist nur wieder einer seiner bekannten Männerschnupfen. Was mache ich denn jetzt?”
Als ob es nicht damit reichen würde, dass mir beim letzten Abendessen ein Stück Zahn ausgebrochen war, aus Deutschland in der letzten Zeit einige beunruhigende Nachrichten eintrafen und mir die Zeit am Tag vor lauter Arbeit nicht mehr ausreichte, musste ich mich jetzt auch noch mit dem momentanen Corona-Protokoll vertraut machen und womöglich mit Emma zum Test gehen. Ganz zu schweigen von der Sorge, die ich mir um ihren Vater machte.
„Du solltest gleich mal beim COVID19-Notruf anrufen”, meinte Luis, als wir noch schnell einen Kaffee bei Sergio nahmen, bevor ich wieder auf die Autobahn musste, um Emma rechtzeitig von der Schule abzuholen, „damit du weisst, was du machen musst”.
„Emma kann jetzt nicht mehr zu ihrer Freundin, wenn ich arbeiten muss”, überlegte ich nur, „die Eltern gehören beide zur Risikogruppe. Dann muss ich sie mit zum Festival bringen.”
„Lass sie ruhig bei mir”, mischte sich Sergio in die Unterhaltung ein, „hier auf der Toilette ist viel Platz und man kann sie von außen verriegeln. Dort ist sie gut von allen abgeschirmt und kann niemanden anstecken.”
„Deine Tochter ist jetzt eine kleine Corona-Bombe”, witzelte Luis, „auch wenn sie keine Symptome hat, kann sie dich und auch sonst alle anstecken, wenn sie den Virus tatsächlich hat.”
Während ich den Weg von Sergios Coffee Corner zum Auto hetzte, rief ich die Corona-Nummer der Comunidad de Madrid an, um zu erfahren, was die nächsten Schritte seien, die in so einem Fall einzuleiten sind.
„Eigentlich müssen Sie jetzt erstmal gar nichts machen”, sagte der freundliche Mann am Telefon, mit dem ich recht schnell verbunden wurde, „erstmal muss der Vater ihrer Tochter zum Test. Wenn der positiv ausfällt, sollte sich ihre Tochter auch testen lassen. Sie können auch nochmal mit dem COVID-Beauftragten der Schule sprechen, um zu sehen, ob dort zusätzliche Maßnahmen getroffen werden müssen.”
Gesagt getan, ließ ich mich im Auto über die Freisprechanlage noch mit der COVID-Expertin der Deutschen Schule verbinden, während ich schon über die Autobahn preschte. Diese sagte mir ebenfalls, dass erstmal nichts getan werden müsste, solange kein positiver Test vorliege.
„Allerdings wäre es vielleicht sinnvoll das Testergebnis zu Hause abzuwarten”, fügte sie noch beiläufig hinzu, bevor wir wieder auflegten. So sei es!
Als ich nach meiner Rallyefahrt über die Nacional Dos an der Schule stand und nicht Papa, legte Emma die Stirn in Falten und fragte:
„Warum bist du denn hier?”
„Papa geht es nicht so gut”, gab ich ihr zur Antwort, während ich versuchte möglichst ruhig und vertrauenserweckend zu klingen, „er hat mich gebeten, dich abzuholen, weil er Husten und Fieber hat.”
Es dauerte nicht lange und schon liefen Emma die Tränen über das Gesicht und sie begann ganz bekümmert zu jammern, „aber ich möchte unbedingt in die Schule gehen. Wenn Papa positiv ist, dann kann ich nicht in die Schule. Das ist furchtbar.”
Dabei fiel mir wieder das neue Lieblingsspiel der vierten Klassen ein, das „Infiziert” heißt. Eigentlich ist das Spiel nichts Neues, sondern nur der Name. Soweit ich weiß, spielen die Kids einfach weiterhin fangen und statt ,versteinert’ zu sein, wenn sie erwischt werden, sind sie eben ,infiziert’ – Fangen Version 2020.
Ich konnte Emma gerade noch von herzlichen Umarmungen abhalten, bevor wir uns von ihrer Freundin verabschiedeten und schnurstracks nach Hause gingen, um Papa anzurufen.
„Wie geht es dir? Was ist denn los?”, fragte Emma über Video.
„Mir geht es nicht so gut, ich habe Husten und Fieber. Aber mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder”, gab Hugo ihr beruhigend und lächelnd zur Antwort.
Nachdem Emmas Tränen getrocknet waren und das Essen auf dem Tisch stand, machte ich mir schon wieder Gedanken über die nächsten Schritte.
„Ich muss noch zum Zahnarzt heute und dann gehen wir auch gleich einkaufen. Das wollte ich eigentlich alles ohne dich erledigen, aber jetzt bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als mitzukommen, Emma!”, erklärte ich meiner Tochter entschuldigend, während mein Handy unentwegt klingelte und sich unzählige Arbeitsmails in meinem Posteingang sammelten.
„Mama, ich kann die Matheaufgaben nicht”, zeterte Emma herum, als wir uns nach dem Essen am Wohnzimmertisch gegenüber saßen, um unsere ,Hausaufgaben’ zu erledigen. Obwohl ich offiziell ja gar nicht aus dem home office arbeiten darf, weil es die Stadtverwaltung nicht erlaubt, sah ich schon eine lange arbeitsreiche Nacht auf mich zukommen. „Emma, es sind ganz normale Malaufgaben, natürlich kannst du das!”, gab ich ihr etwas unwirsch zur Antwort und brachte sie damit vollends zur Verzweiflung.
„Mama, ich kann das nicht!”, meckerte sie herum und hielt mich damit von der Korrektur des Festivalkatalogs ab.
„Wenn ich jetzt kein Verständnis zeige, dann ist Land unter”, dachte ich mir, während ich fast vor Wut zerplatzte. Ich gab ihr ein paar Tipps, damit sie die Aufgaben ohne Mühe selbst erledigen konnte, bevor wir zu meiner Zahnärztin aufbrachen.
Diese zimmerte mir in Windeseile einen neuen Zahn, damit ich nicht mehr wie ein Vampir mit einer spitzen Ecke herumlaufen müsste und schaute bei dieser Gelegenheit auch nochmal in Emmas Mund und auf ihre Zahnlücken – alles paletti, nur besser putzen sollte sie.
Ein kurzer Stop bei ALDI mit Einkauf verschiedener deutscher Produkte war das letzte, was außer Unmengen an Arbeit, noch auf dem Tagesprogramm stand.
Als ich am nächsten Morgen schon wieder am Schreibtisch saß, um die für die Festivalvorführungen nötigen Filmkopien und Untertitel zu bestellen, meldete sich Hugo aus dem Ärztezentrum:
„Diesmal war der Test nicht so unangenehm, wie beim letzten Mal!”, schrieb er beruhigt und zuversichtlich, „und ich bekomme das Ergebnis in 15 Minuten!”
„Freut mich!”, gab ich kurz zur Antwort und widmete mich wieder meinen Emails, während Emma in ihrem Zimmer die nächste der gefühlten tausend Folgen Bibi Blocksberg anschaltete.
„Bitte reserviere mir unbedingt einen Lieferwagen, um die Fotos der Ausstellung von Barcelona nach Alcalá zu transportieren”, hörte ich den Fotografen in seinem Audio und fragte mich, welche Autovermietung unter den jetzigen Umständen wohl ohne Corona-Restriktionen eine Fahrt im Berlingo von Katalonien nach Madrid erlaube.
Als das Telefon knapp zwanzig Minuten später klingelte, hatte ich gerade die Europcar-Website auf dem Bildschirm.
„Es tut mir so leid”, schniefte Hugo, „es tut mir so leid. Ich bin positiv.”
„Ich bin positiv”, klang das Echo in meinem Kopf, „ich auch!” Und nach einer kurzen Bedenkzeit folgte: „Ach du meine Güte, was mache ich denn jetzt? Ich habe doch gar keine Zeit für Corona!”
„Oh nein!”, kam mir nur über die Lippen, als schon die Tränen liefen. Auch Hugo weinte und wir verstanden uns ohne Worte, denn beide hatten wir Angst vor dem, was jetzt kommen würde.
„Emma”, schreckte ich meine Tochter vorsichtig aus ihrem ,hex, hex’ der kleinen Hexe, nachdem ich einen sofortigen Termin in unserem Ärztehaus ausmachen konnte, „wir müssen leider ganz schnell zum Arzt. Papa hat Corona und du musst sofort auch einen Test machen”.
Ihr saß der Schreck noch in den Gliedern, als wir schon auf dem Weg zum Ärztezentrum waren. Dort angekommen und in die Warteschlange eingereiht, wurden wir an der Eingangstür sortiert und nach anfänglichen Zuordnungsschwierigkeiten direkt in das Sprechzimmer der zuständigen Ärztin geschoben, die sich als Ana vorstellte.
Wir standen jetzt auf der Seite der Infizierten, hinter den Absperrungen und wurden nach der Säuberung des gesamten Raumes freundlich von der kompetenten Medizinerin in Empfang genommen. Nachdem wir ihr kurz unseren Fall geschildert hatten, untersuchte sie Emmas Hals und Lunge und erklärte ihr, was sie als nächstes tun würde:
„Siehst du dieses feine Stäbchen? Das schiebe ich dir erst in das eine und dann in das andere Nasenloch bis ganz oben, drehe es dort ein bisschen, um Sekret zu entnehmen und das war es dann. Es geht ganz schnell, aber ich brauche deine Hilfe, du musst stillhalten und mich machen lassen.”
„Tut das weh?”, fragte Emma ganz tapfer.
„Ich habe schon drei machen lassen”, erwiderte die Kinderärztin, „es tut nicht weh, aber ich mache dir nichts vor, es ist sehr unangenehm.”
Meine Tochter legte sich kommentarlos auf den Rücken, griff meine Hand und ließ sie machen.
Es ging wirklich blitzschnell und schon sagte uns die Ärztin:
„Ihr könnt jetzt 15 Minuten spazieren gehen und dann kommt ihr wieder, um das Ergebnis zu erfahren.”
Wir verließen das Sprechzimmer, um ein bisschen durch die Straßen zu laufen und Hugo anzurufen. Emma wollte natürlich wissen, ob er sich als Coronapositiver verändert hatte und ihm von ihrer heldenhaften ,Mutprobe’ erzählen.
„Papi, ich habe es auch geschafft. Es war gar nicht so schlimm, nur sehr unangenehm”, sagte sie ihm, während er versuchte sie nicht mit seinem Husten zu übertönen.
„Schau mal, was ich kann”, hüpfte sie schon dann wieder von einem Mäuerchen herunter, als ich noch vor dem Testergebnis versuchte die unzähligen Whatsapp-Nachrichten aus dem Büro von Festivaltechnikern, Fotografen und Luis zu beantworten.
Als wir wieder im Sprechzimmer der hinter Maske, Schutzschild und im Astronautenanzug vermummten Ärztin ankamen, schüttelte diese den Kopf und begegnete uns mit einem „wider Erwarten ist sie auch positiv. Ich habe meinen Kollegen gebeten, bei Ihnen vor seinem Schichtwechsel auch noch einen Test zu machen, damit sie über alles Bescheid wissen.”
Wir hatten noch nicht einmal Zeit, den Schock zu verarbeiten, da schickte sie mich schon ins Nebenzimmer, wo der Vermummte mit dem langen Teststäbchen in der Hand auf mich wartete. Hinsetzen, Kopf zurück, einführen, fertig.
„Ja, es ist wirklich sehr unangenehm!” dachte ich nur.
Und wieder machten wir einen Rundgang, nicht ohne Hugo noch einmal anzurufen, um ihm Emmas Ergebnis mitzuteilen.
„Es tut mir so leid!”, wiederholte er wieder, „ich bringe alles durcheinander. Ich habe euch alle angesteckt!”
„Papa, jetzt entschuldige dich nicht, du kannst doch nichts dafür”, gab Emma ganz gefasst zur Antwort.
„Drei zum Preis von einem”, versuchte ich die Stimmung aufzulockern, „drei Tests an einem Tag, alles auf einmal und wir sind rundum versorgt.”
„Bitte ruft mich wieder an”, wenn ihr das Ergebnis wisst, bat er uns.
Die unzähligen Emails im Posteingang, die ich von meinem Handy aus einsehen kann, hielten mich von negativen Corona-Gedanken ab, da ich mir immer nur wieder die Frage stellte, wie ich das heute noch alles schaffen sollte, ohne die geordnete Festivalvorbereitung zu stören.
15 Minuten später standen wir wieder bei Ana, die mir nun mein Ergebnis verkündete: „Sie sind negativ!”
Nachdem sie meinen verdatterten Gesichtsausdruck sah, nahm sie eine Art Arbeitsblatt mit Feldern zum Ankreuzen und Pfeilen zur Hand und begann mit ihren Erklärungen: „Emma ist positiv, das heißt, sie müssen die Schule informieren und sie muss zehn Tage in Quarantäne. Sie sind negativ, müssen aber mit ihr in Quarantäne, um sich um sie zu kümmern. Während Sie mit ihr zu Hause sind, besteht die Möglichkeit, dass Sie sich anstecken, weswegen Sie nach den ersten zehn Tagen noch weitere zehn Tage zu Hause bleiben müssen.”
Als sie meinen ungläubigen Blick sah, bestätigte sie: „Ja, richtig, für Sie sind das zwanzig Tage Isolation. So und jetzt gehen Sie nach Hause, verarbeiten diese Information und schauen, wie Sie sich organisieren.”
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