05.10.2020 - Annette Scholz
Neulich saßen wir mit unserem diesjährigen Festivalteam, das aus Luis, mir und drei Praktikanten besteht, in der Pause wieder in unserem Stammcafé in Alcalá, San Diego Coffee Corner, ein modernes Lokal an einer der Ecken der zentralen Plaza de los Irlandeses, unweit der Calle Mayor. Es ist unsere tägliche Pilgerstätte, da es sich nicht nur durch den besten Kaffee der Stadt und seine geschmackvolle hölzerne Inneneinrichtung auszeichnet, sondern vor allem wegen Sergio, seinem Besitzer. Der Kaffeefetischist und Musikkenner, der sein erstes Café to go in der Calle Bedel in der Nähe der hiesigen historischen Universität eröffnete, gibt nämlich zu jedem Getränk auch seinen ,Senf’ dazu – natürlich nur, wenn er gut gelaunt ist, aber das ist er fast immer.
„Und ihr braucht noch keinen Passierschein, um zum Arbeiten zu kommen?”, fragte uns Sergio, als er wie gewohnt vier Milchkaffee zubereitete, „möchtet ihr auch etwas zu essen?”
„Nein, danke”, gab ich zur Antwort und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Schokoladencroissants, „Heute kamen wir noch problemlos über die Stadtgrenzen. Mal sehen, wie es nächste Woche wird!”
„Ich serviere euch den Kaffee auch online”, scherzte er noch, als er zu seinem Plastikhansdschuh griff, der mit ausziehbarer Kette an seinem Hosenbund hängt, um die Bezahlung in Empfang zu nehmen.
„Das konservative Lager der spanischen Gesellschaft ist nicht rassistisch, sondern klassistisch”, begann Luis, als wir uns mit gebührendem Abstand und Masken um den Tisch hinter der Theke setzten, „diese Maßnahmen, die die einkommensschwächeren Stadtviertel in Madrid abriegelt, wird nicht viel bringen”.
Die Ghettoisierung, die in Madrid zur Eindämmung der Pandemie vorgenommen wird, hebt einmal mehr Probleme in den Vordergrund, die es schon seit langem in der spanischen Gesellschaft und in den Strukturen der Hauptstadt gibt. Madrid lässt sich nach einem grafischen Witz, der 2015 nach den Lokalwahlen durch die sozialen Netzwerke ging, wie das ehemalige Deutschland in zwei Teile teilen. Je nachdem welche Partei, die Wahlen gewonnen hatte, schrieb der Zeichner Zugehörigkeit eines Distrikts zu der demokratischen oder föderalistischen Republik: Im Norden der Stadt war die rechte PP die am meisten gewählte Partei, im Süden war die linke AhoraMadrid die bevorzugte Option. Dieser politische Unterschied entsprach einer sozioökonomischen Ungleichheit, die die Stadt Madrid seit Jahrzehnten zwischen ihren nördlichen und westlichen Bezirken einerseits und denen des Südens und Ostens andererseits durchzieht. Alle grundlegenden Gesundheitsbereiche, die seit Montag, den 21. September in der Hauptstadt ghettoisiert sind, befinden sich genau in den südlichen und den östlichen Bezirken: Carabanchel, Usera, Villaverde, Puente de Vallecas, Villa de Vallecas und Ciudad Lineal.
Das niedrigste durchschnittliche Nettoeinkommen der Stadt, 25.527 Euro, liegt im Bezirk Puente de Vallecas, weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Nettoeinkommens von 65.995 Euro in Chamberí. 86% der Einwohner der ghettoisierten Stadtbezirke arbeiten außerhalb und müssen beziehungsweise dürfen sich auch weiterhin täglich vorwiegend in öffentlichen Verkehrsmitteln in andere Viertel bewegen, allerdings nur, um ihren Pflichten nachzukommen.
Neulich musste ich ein Ärztehaus aufsuchen, das ich bisher nicht kannte, in Tetuán, Nähe Plaza Castilla, wo meine Fachärzte für den Magen-Darm-Trakt und Dermatologie sitzen. Ich musste nur knapp zwei Monate auf meinen Termin warten, während denen meine Magenbeschwerden wieder weitestgehend verschwunden waren. Tetuán ist ein multikulturelles Viertel, in dem die COVID-Fälle bald an die 1.000 pro 100.000 Einwohner heranreichen.
Nachdem ich zehn Minuten von der Plaza Castilla aus über die breite Bravo Murillo-Straße zum Ärztezentrum gelaufen bin, fiel mir auf, dass nun wirklich jeder Maske trägt und auch fast immer an der richtigen Stelle, jedenfalls in diesem Stadtviertel. Der Verkehr war auch soweit normal dicht, sowohl auf der Fahrbahn, als auch auf dem Bürgersteig. An den roten Ampeln bildeten sich kleine Menschentrauben mit Abstand und vor den Banken, Cafés und Läden Schlangen mit gebührender Distanz. Der Spazierweg an der stark frequentierten Einkaufsstraße im Norden Madrids wurde also zum Hindernislauf. Während ich mich also durch die Leute schlängelte, um rechtzeitig zu meinem Arzttermin zu kommen, schaute ich mir die Maskierten auf der Straße an und kam nicht umhin, mich an verschiedenen Hinterköpfen mit Schleifchen zu erfreuen.
Angekommen am Gesundheitszentrum, fand ich eine lange Schlange vor der Tür, in die ich mich mit dem möglichem Abstand einreihte.
„Auch mit Termin muss man warten, oder?“, fragte ich zur Sicherheit noch einmal, was von allen anderen vermeintlich Kranken, die mit mir in der prallen Sonne standen, bejaht wurde.
Schließlich wies mich ein handgeschriebenes Schild seitlich am Eingang des fast baufällig wirkenden Gebäudes daraufhin, dass ich mit Termin doch direkt zum Arzt durchgehen kann. Das tat ich auch, froh dem Ansturm und Menschenandrang im Erdgeschoss entweichen zu können.
Überraschenderweise wurde beim Eindringen keine Fieberpistole auf mich gerichtet, nur mit Desinfektionsspray wurden mir die Hände besprüht und eine neue Chirurgenmaske bekam ich noch über meine aus Stoff gestülpt, sodass ich dem Arzt doppelt maskiert gegenübertrat.
Mit einer älteren Dame teilte ich den Aufzug, nachdem sie mich um mein Einverständnis gebeten hatte. Der metallene Käfig war mit durchweichtem Pappkarton ausgeschlagen, was keinen sehr vertrauenserweckenden Eindruck bei mir hinterließ. Ich blieb aber, nicht zuletzt wegen der älteren Lady, und wurde sicher in den dritten Stock befördert.
Oben angekommen, herrschte Ruhe, keine Wartenden, auch nicht auf den Sitzen, die man noch benutzen durfte. Nur die Stimme des Arztes hörte ich leise aus dem Sprechzimmer, der seine Patienten jetzt an der Strippe behandelt.
Während ich darauf wartete, eintreten zu dürfen, schaute ich mich um. Vergilbte Wände, verbogene, veraltete Heizkörper und ein etwas schmuddeliger Eindruck, verstärkt durch das Baustellenabsperrband, das momentan zur üblichen Innenausstattung jedes öffentlichen Gebäudes gehört. Tatsächlich scheint dieses Gebäude aus dem letzten Jahrhundert derzeit wohl einer längst überfälligen Sanierung unterzogen zu werden.
„Das soll ein Ärztezentrum in einem hoch entwickelten Land Europas sein?“, fragte ich mich und dachte dabei an das Interview im Radio mit einer Krankenschwester, die ein Crowdfunding gestartet hatte, um ihre Doktorarbeit zu finanzieren.
„In Spanien wird viel zu wenig in Forschung und Versorgung investiert“, erklärte sie am Wochenende dem Radiosprecher, nachdem sie alle möglichen Stipendien beantragt und trotz eines Abschlusses mit 1,5 keines bewilligt bekommen hat.
„Jetzt gehen alle Forschungsgelder im medizinischen Bereich an Projekte, die sich mit COVID19 beschäftigen, andere Krankheiten werden völlig unter den Tisch gekehrt“, versuchte sie ihre Verzweiflungstat zu erklären, die auf sozialen Netzwerken für viel Lärm gesorgt hatte.
Als ich das Behandlungszimmer betrat und mich der junge Arzt nach einem ersten Niesen, nach allen Symptomen befragte, schoss es mir in den Kopf:
„ Zum Glück wurde nicht an der Ausbildung des Arztes gespart, denn er scheint tatsächlich ein fähiger Spezialist. Obwohl er so jung ist, fühle ich mich bei ihm besser aufgehoben, als bei dem Privatarzt, den ich vor ein paar Wochen aufgesucht habe“.
Politikwissenschaftler definieren Madrid als eine Stadt, die dem lateinamerikanischen Modell mit großen Unterschieden zwischen reichen und armen Stadtteilen ähnlicher ist, als dem europäischer Städte, in denen sich die verschiedenen Einkommensgruppen homogener verteilen. Und diese Unterschiede spiegeln sich im Angebot öffentlicher Dienstleistungen, wie Ärztezentren und ähnlichem wider.
Jeden Tag gibt es nun Demonstrationen der Anwohner vor den Ärztehäusern, um gegen die Maßnahmen zu protestieren, die vereinzelt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei geführt haben. Dabei fordern die Bewohner der süd-östlichen Stadtviertel doch nur die Einstellung von Gesundheitspersonal, Verstärkung im Transportwesen, um Menschenansammlungen zu vermeiden, COVID-Teststellen und Personal, um die Corona-Ansteckungen nachzuverfolgen.
Die während der Pandemie dramatisch eskalierten Bedürfnisse, die auf eine schon lange fehlende Investition im gesundheitlichen Grundversorgungssystem zurückzuführen sind, könnten durch das Einstellen von Ärzten und Pflegepersonal verringert und das Abwandern qualifizierter Kräfte ins Ausland verhindert werden. Die Madrider Regierungschefin Díaz Ayuso fordert hingegen von der Nationalregierung Unterstützung durch Polizei und Soldaten, um den Ausgang aus den Ghettos zu überwachen.
© 2020 bitacora.uni-regensburg.de
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