Die Inszenierung Barcelonas als mittelalterliche Stadt

06.07.2018 - Ulrike Prinz 

Alles für den Touristen/ oder: Gotic Fake

 

Fast jeder kennt und liebt es: das Gotische Viertel von Barcelona. Es ist eines der ältesten Viertel Barcelonas und erstreckt sich rund um die Kathedrale, zwischen den Straßen Carrer del Bisbe, Tapieria, der Via Laietana und der Avinguda de la Catredral. Es gehört zu einem der vier Stadtviertel, die früher innerhalb der 1270 Meter langen römischen Stadtmauer lagen und die dann zwischen dem 9. und dem 15. Jahrhundert zu vollem Glanz erblühten.

 

Heute macht das Barri Gòtic neben dem Raval; San Pedro, Santa Catalina i la Riveradas das Herz der Altstadt Barcelonas aus. Seine Dichte an historischen Gebäuden ist beachtlich. Rund um die Kathedrale werfen Palastmauern und noble Häuser lange Schatten auf die engen und labyrinthischen Gassen. Hunderte, wenn nicht Tausende von Besuchern flanieren täglich durch die Sträßchen und Plätze und lassen sich ins Mittelalter zurücktransportieren – oder auch in die nächste Bar oder den nächsten Souvenier- oder Designerladen. Denn wo die monumentalen Gemäuer Platz lassen, haben sich alle Arten von Geschäften angesiedelt. Urlauber schlendern unter der der Pont del Bisbe, der Bischofs- oder „Seufzerbrücke“ hindurch, die mit ihren Spitzbögen zwei mittelalterliche Paläste, den Palau de la Generalitat und die Casa dels Canonges, verbindet. Diese Brücke liegt noch vor allen Gaudí-Bauten auf Platz eins der meist fotografierten Objekte Barcelonas. Nur haben unter ihr weder zum Tode Verurteilte geseufzt, noch sind die Könige von Aragón hindurch gewandelt. Vielmehr wurde diese Brücke als Touristenattraktion erfunden. Wie so vieles hier im Barri Gòtic.

 

Das mittelalterliche Viertel ist nichts weiter, als eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. So belegt es Agustín Cócola Gant in seiner Doktorarbeit, die 2011 erschien und bereits in zweiter Auflage vorliegt. Sie erregt immer noch großes Interesse – bisweilen auch Ärger. Denn der Kunsthistoriker nimmt in ihr liebgewordene Mythen aufs Korn. Sorgfältig dröselt Cócola die Umgestaltung des Gotischen Viertels auf und zeigt, wie die Stadt schon seit dem frühen 20.Jahrhundert von lokalen Politikern und Unternehmern architektonisch stark umgestaltet und systematisch in ein touristisches Ziel verwandelt wurde.

 

Den Anfang der Umgestaltung machte die Kathedrale. Ihre einfache, glatt verputzte Fassade wurde für die erste internationale Weltausstellung 1888 in einem recht pompösen neogotischen Stil ergänzt und „verschönert“. Der mittlere Turm kam erst im frühen 20. Jahrhundert dazu. Das Teilstück des “römischen” Aquädukts an der rechten Seite der Kathedrale ist eine Rekonstruktion aus Franco-Zeiten.

 

Mittelalter-Mix

Cócola weist nach, dass dieses Barri Gòtic ein Fake ist. Dem Besucher wird hier zum großen Teil ein Mittelalter-Mix, eine Collage-Architektur präsentiert, die aus alten Bausteinen und Elementen zusammengestellt wurde. 1908 begannen der damalige Denkmalpfleger Jeroni Martorell (Servei de Catalogació i Conservació de Monuments) und der Architekt der Stadtverwaltung Joan Rubió i Bellver mit der Umgestaltung des Kathedralenviertels. Auf begrenztem Raum wollte man mit möglichst vielen gotischen Gebäuden ein Ambiente und eine historisch und emotionale Intensität schaffen, um die Besucher zu überwältigen, so Adolfo Florensa i Ferrer, einer der damaligen Stadtarchitekten Barcelonas. Und man machte sich daran, der Stadt ein altes Aussehen und neue symbolische Bedeutungen zu geben.

 

Katalanische Identität

Ohne Sorge um historische Authentizität verpflanzten die Architekten Bauteile, Fassaden und ganze Häuser. „Man bezog sich auf die Glanzzeit Barcelonas während des Mittelalters und versuchte auch mittels der gotischen Architektur mittelalterliche Symbole wiederzubeleben“ hebt Còcola hervor. Restaurieren bedeutete damals die Gebäude zu komplettieren und ihnen Teile hinzuzufügen, die der Idee nach fehlten. Eine Idee, wie zum Beispiel das typische mittelalterliche Landhaus aussehen sollte, hatte der Architekt und Politiker Josep Puig i Cadafalch. Er erfand die Bezeichnung „Casa Catalana“, auch wenn er sich auf existente Haustypen stützte. Das mittelalterliche Landhaus sollte die katalanische Seinsweise wiederspiegeln und mit einem großen Portal und den typischen “ventanas cornoelles“ (Dreierfenster mit gotischem Spitzbogen) sowie einer Portikus-Galerie mit einem seitlichen Turm ausgestattet sein. Nach diesem Vorbild einer katalanischen Architektur restaurierte man etliche Gebäude des Gotischen Viertels, das zuvor ganz einfach Kathedralenviertel hieß.

 

Es wurde gotisiert wo es nur ging. Fassaden, Tore und Fenster, ja ganze Gebäude wurden verpflanzt. So wurde zum Beispiel der Palast Casa Padellás aus dem 15. Jahrhundert, der heute Sitz des Historischen Museums ist, vollständig abgebaut und an die Plaça del Rei transferiert, was man flink dazu nutzte, ihm eine Portikus-Galerie und die Coronella-Dreierfenster mit Spitzbögen angedeihen zu lassen.

 

Etwas ähnliches geschah mit dem Palau Reial Major aus dem 11. Jahrhundert, der in verschiedenen Epochen umgestaltet worden war und ein neoklassisches Portal hatte. Er wurde zurückgotisiert und mit alten Elementen aus anderen Gebäuden angereichert. Auch den Salò de Tinell auf der Plaça del Rei, in dem angeblich die Katholischen Könige Kolumbus Erzählungen gelauscht hatten, befreite man von allen umgebenden Gebäuden, um ihn dann auf Basis der Idee, die man von einem mittelalterlichen Gebäudes hatte, zu vervollständigen. Dabei setzte man Fenster aus verschiedenen Epochen ein: Rosetten und Drillingsfenster. Die hintere romanische Fassade, die dem Patio des Marés-Museums zugewandt ist, wurde dabei ebenfalls stark umgestaltet.

 

Wie der Stadtarchitekt Rubió bekannte, gab es im Barri Gòtic kaum mehr als sechs Häuser, die mit gutem Willen als gotisch bezeichnet werden konnten.

 

Neben dem Versuch eine attraktive Außenwirkung zu erzielen, gab es einen weiteren Grund für die Rückverwandlung des Kathedralenviertels in eine mittelalterliche Traumstadt: man hatte jede Menge Material. Um die Jahrhundertwende hatte die Stadterweiterung durch das sogenannte Eixample-Viertel dessen Verbindung des mit dem Hafen notwendig gemacht. Es musste eine Schneise durch die Altstadt geschlagen werden. Dem Bau der Via Laietana fielen 335 mittelalterliche Gebäude zum Opfer. Größtenteils waren diese schon sehr baufällig. Es begann eine große Debatte, was mit den mittelalterlichen Fenstern, Kapitellen, Säulen und Steine geschehen sollte. Die eigens für diese Fragen gegründete Kommission, schlug vor, die historischen Bauelemente in einem Museum auszustellen. Doch dann kam man auf eine bessere Idee: die Konstruktion eines gotischen Viertels rund um die Kathedrale.

 

Frühes Stadtmarketing

Zeitgleich mit dem Baubeginn der Via Laietana, um 1908, hatte sich die Sociedad de Atracción de Forasteros (SAF) gegründet, eine Gesellschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den internationalen Tourismus voranzutreiben und das Potential der Stadt auf diese Weise auszubeuten. Das Bürgertum, Politiker wie private Investoren wollten der Stadt ein unverwechselbares Aussehen geben.“Die Touristen, die Fremden, hätten dann bessere Gründe um nach Barcelona zu kommen und ihr Geld dazulassen.“ So argumentierte er Architekt Jeroni Martorell. Das war 1911. Drei Jahre später sprach sich der Politiker Ramón Rucabado dafür aus, die „normalen“ – also nicht gotischen – Gebäude abzureißen und sie im neuen-alten Stil zu ersetzen. So könne man dem Viertel ein geschlossenes Bild geben und ein „echtes gotisches Viertel“ entstehen lassen. Auch stand die nächste große Weltausstellung von 1929 an, zu der man die Stadt weiter aufhübschen wollte.

 

Das Barri Gòtic müsste man aus heutiger Sicht als Fake bezeichnen. Das Viertel war wie ein Konsumartikel für den Besucher geschaffen worden, eine Art Themenpark. Obgleich dagegen einzuwenden ist, dass jede Epoche ihren eigenen Umgang mit historischen Ensembles pflegt. Und dieser sorglose Umgang mit der Geschichte war zu Beginn des 20ten Jahrhunderts relativ normal und nicht weiter schockierend. „Rekonstruktionen, die einem Idealmodell des Mittelalters folgten, waren in vielen europäischen Ländern üblich. Besonders in Frankreich, Italien, Belgien und Deutschland. Die Renovierung des Kölner Doms ist ein gutes Beispiel hierfür“, bemerkt Cócola. Allerdings wurde in Barcelona besonders heftig rekonstruiert.

 

Agustín Cócola, der derzeit an der Universität von Lissabon über Gentrifizierung und Tourismus forscht, beklagt „wie schnell die `historische Wahrheit´ nebensächlich wird, sobald eine erfundene Tradition (Invented Tradition) Erfolg hat.“ Und den hat Barcelona. Nach offiziellen Daten der Stadt strömten 2016 mehr als 30 Millionen Touristen in die katalanische Metropole. Nur während der Franco-Diktatur war die Touristifizierung Barcelonas unterbrochen worden. Und „vieles, was die Tourismus-Industrie bereits 1911 vorgeschlagen hatte, an Internationalem Marketing, der Planung von Großveranstaltungen, und der Schaffung eines attraktiven historischen Zentrums, wurde in den 1990er Jahren mit der Vorbereitung Barcelonas auf die Olympiade von 1992 realisiert“ erklärt Cócola.

 

Das Wissen um die Erfindung des Barri Gòtic mit seinen Collage-Gebäude muss den Besuchern die Laune nicht verderben. Im Gegenteil, es ist ein Teil seiner Geschichte. Ein Teil, der allerdings nicht so gerne offen gelegt wird.
Ulrike Prinz ist Ethnologin, Redakteurin und freie Autorin bei prinzplusprinz.de. Sie lebt und arbeitet in Sitges und in München.Ersterscheinung des Artikels in der TAZ.

 

Ulrike Prinz

 

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