NUTZWERT: Die Tyrannei des Erfolges

15.02.2010 - Urs Bucher 

In diesem Text nimmt Urs Bucher, Leiter der Schweizer Schule Madrid (CSM), in der bedeutungsvollen Darlegung „ Mein Kind schafft das oder Die Diktatur des Guten“ Bezug auf verschiedene renommierte Pädagogen. Neben anderen Aspekten geht er auf Wichtigkeit ein, dass das Kind sich geliebt, akzeptiert und beschützt fühlt, dass die Worte, mit denen Eltern erklären, mit einer positiven Emotion geladen sind.
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Eltern stehen unter Druck; es herrscht „Bildungsangst“. Seit Jahren steigt der Anteil der Kinder, bei denen Stimm-, Sprech- und Sprachstörungen oder psychische, sensorische, motorische Störungen diagnostiziert werden. Die Kinder lernen immer weniger, mit den anderen klar zu kommen.

Kindheit 2009, das ist ein Leben im Überwachungsstaat, in einer Diktatur des Guten. Eltern wollen mit den Kindern hoch hinaus. Auf den Kindern von besonders schlauen und erfolgreichen Eltern, die sich erträumen, dass ihr Kind ebenfalls eine glänzende Karriere absolviert, lastet ein Druck, der sich antiproportional zu den realen Fähigkeiten der Kinder verhält.

Die Kinder von heute sind „Wunschkinder“; ein Wunschkind hat wenige Geschwister – aber Kinder entwickeln sich vor allem über andere Kinder. Am härtesten trifft es das Einzelkind: Es muss alle Erwartungen seiner Eltern allein schultern. Fatal, dass es der Selbstverwirklichung der Eltern dienen muss, anstatt seiner eigenen, dass es ein Juwel werden soll, egal, wie sehr man an ihm herumschleifen muss.

Eltern tragen selber kaum zur Entwicklung ihrer Kinder bei, sagt Remo H. Largo. Largo hält Legasthenie und Dyskalkulie für Normvarianten von Lesen und Rechnen, die man nicht wegtherapieren kann. Was Kindern heute fehlt, sind nicht Therapien, sondern eine Welt, die ihnen gerecht wird, Beziehungen, die nicht auf Leistung aufbauen. Mit einem altmodischen Wort: Geborgenheit.

Der Hirnforscher Gerald Hüther erklärt, wie wichtig eine enge emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist. Sprache etwa, sagt er, können Kinder nur dann gut lernen, wenn die Eltern in der Lage sind, die Worte emotional aufzuladen. Viele Eltern aber schafften diese emotionale Aufladung nicht mehr. Bei den Kindern kommt dann nur Geschwätz an, das Gesprochene hat keine Struktur, keine Bedeutung für das Kind.

Janusz Korczak, ein anderer grosser Pädagoge, welcher 1942 im Konzentrationslager umkam, sagte: „Wir dürfen Kinder aus Angst, sie zu verlieren, nicht überbehüten.“ Er forderte das Recht des Kindes auf den heutigen Tag: Wir sollten uns hüten, ständig auf die Zukunft des Kindes zu schielen. Es ist das Recht des Kindes, so zu sein wie es ist – dazu gehört das Recht auf Misserfolg.

Der Gedanke, dass ihr Kind etwas nicht kann, ist für die meisten Eltern heute tabu. Umso attraktiver sind alle Therapien, die nahelegen, dass man etwas reparieren kann – am Kind wird herumgeschraubt wie an einem defekten Auto. Eine Krankheitsdiagnose zu bekommen, kann ungemein entlastend sein, weil sie bedeutet, dass die Eltern am Kind etwas ändern können – und an sich selbst nichts ändern müssen. Das ist übrigens derselbe Grund, warum Psychotherapien im Gegensatz zu anderen Therapien so selten von Eltern nachgefragt werden. Kinderpsychotherapeuten begutachten nämlich immer auch die Eltern.

Oft ersetzt die Spielkonsole die Verbundenheit zu den Eltern. Das Ergebnis ist gleich: Beziehungslosigkeit. Un das bedeutet immer: eingeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten für die Kinder; ihr Gehirn wird zu einer Kümmerversion dessen, was daraus hätte werden können.

Ulrike Kegler ist Schulleiterin in Potsdam; 2007 hat sie den Schulpreis gewonnen. Sie kennt sie, die Siebenjährigen, die zur Begrüssung sagen: „Ich habe ein ADHS-Syndrom.“ Wenn so ein Satz fällt, sagt Kegler: „ Was? Du hast schöne Locken, blaue Augen, en schönes T-Shirt!“ Dann schickt sie das Kind zur Besichtigungstour durch die Schule und spricht allein mit den Eltern: Wie ruhig sind Sie selbst? Wie leben Sie Ihren Alltag? Wie oft essen Sie zusammen? Wie verbringen Sie Ihre Ferien?

Unglaubliches geschehe, wenn man die ADHS-Diagnose nicht mehr in den Mittelpunkt stelle. Wenn man Kindern Förderung auf ihrem Niveau anbiete. Wenn man die Eltern darin unterstütze, ihr Kind zu akzeptieren, wie es ist. Statt die Kinder von einem Sport- zu einem Musikkurs zur Therapie zu fahren und 25 Kinder zum Geburtstag einzuladen, können Sie, liebe Eltern, Keglers Liste der sinnvollen Alltagsdinge beherzigen:



· etwas vorlesen

· zusammen kochen

· auf einen Berg klettern

· Ball spielen

· gemeinsam aufräumen

· gemeinsam gar nichts machen


Irgendwie scheinen wir Erwachsenen eine ziemlich simple Sache vergessen zu haben: Kinder wollen doch nur spielen. Vielleicht sollten wir sie zur Abwechslung einfach mal lassen. Und, wenn es sein muss, selber zum Therapeuten gehen.

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