SCHREIBWETTBEWERB: Lichtschatten

24.08.2009 - Beatriz Casas 

Als man mir ihren Besuch gemeldet hat, lächelte ich rätselhaft. Sehr oft klingelte das Telefon vom Flur der Pension Fuentes, aber während der ganzen Zeit, die ich dort gewohnt habe, bekam ich nie einen Anruf. Deshalb blieb ich bewegungslos auf meinen Stuhl, und wartete, bis meine Patronin den Apparat abgenommen hatte. Das Telefon klingelte noch auf der andere Seite meiner Tür, eingestreut mit den unregelmäßigen und beschleunigten Schritten von Aicha, meine Patronin, eine alte Frau und ein bisschen hinkend. Als ob ich versuchte zu entdecken, wie spät es war, sah ich zum Fenster hinaus und fühlte den Geruch nach Leder, Orangen und Minze. Eine Gruppe von alten Männern spielte Damespiel in Le Café de Petit Zouc und trank Tee aus Gläsern, während die letzte Bazare mit einem metallischen Geräusch schlossen, das die Siagins-Straße herunterkam.

Am Ende hörte ich die Stimme der alten Frau : Alu? Alu?... ja, genau, Pension Fuentes... Wie, bitte?... doch!... seit zwanzig Jahren mindestens bewohnt er dasselbe Zimmer... kein Problem, ich werde ihm das sagen... aber können Sie mir bitte ihren Namen wiederholen?“ Von meinem Stock verfolgte ich die Konversation ohne zu viel Interesse, bis ich meine Patronin hörte: „Jacqueline Beauvais?...B-e-a-u-v-a-i-s... gut... es macht nichts...“ Ich konnte es nicht glauben. Plötzlich kam mir das letzte Mal in Erinnerung, als ich sie gesehen habe: Es war im Café del Hafa, gegenüber dem Meer. Von unserem Tisch wurde die spanische Küste deutlich, gezackt bei den kleinen weißen Häusern von Tarifa. Es war viele Jahre her, aber heute noch bleibt dieses Gespräch, das letzte, das wir anknüpfen konnten, intakt in meinem Kopf.

Ich konnte mich erinnern an dem Tag, in dem der Direktor der Schule sie in die Klasse brachte, Hand in Hand, und schnell monopolisierte sie alle Blicke. Das französische Schulsystem war nicht lange in Marokko etabliert, deshalb war die Gegenwart eines Mädchens für viele etwas überraschendes. In der freie Hand hielt Jacqueline ein wunderschönes blaues Federmäppchen. Nie vorher hatte ich so etwas gesehen. Monsieur Abdellaoui, der Arabisch-Lehrer, setzt sie neben mich, wahrscheinlich weil ich, genau wie sie, neu in der Schule und auch in Marokko war. Wir waren am Anfang der vierziger Jahre und, obwohl ich zwei Jahre älter als sie war, überstieg keiner von uns die zehn. Ich konnte nicht den Blick von dem Federmäppchen ablenken, und fragte sie, wo sie es gekauft hatte. Deshalb entdeckte ich, dass sie früher in Budapest wohnte, bis sie die Stadt verlassen mussten wegen „Erwachsener Sachen“. „Dann wie ich“, dachte ich.

Aber später verstand ich, dass unsere Situation nicht dieselbe war: Die Familie von Jacqueline (ihre Mutter kam aus Frankreich und ihr Vater aus Ungarn,) ging von Budapest nach Tanger, diese kleine internationale Oase in der Mitte der Wüste des Krieges, der schon angefangen hatte. Ich meinerseits war mit meiner Familie aus Bordeaux gezogen, weil mein Vater in ein anderes Krankenhaus versetzt wurde, hier in Marokko. Auf jeden Fall hier waren wir beide, weit weg von Hause, weit weg von unseren Freunden, und von allem, was wir bis dann konnten. Weit weg. Sehr weit weg.

Aber schnell, ohne es zu merken, wurde Tanger unser neues Haus und die alten Freunde, ohne es zu wollen, wurden ersetzt durch andere neue. So kannten wir Simo, Ahmed, Tarek, Nirmine, Isaac, Oualid, Perla und viele andere, mit denen wir die Nachmittage nach der Schule verbrachten. Da sind wir sehr oft zum „bakhal“ gegangen, um eine Süßigkeit zu kaufen. Die „bakhals“ waren kleine Läden von kaum sechs Quadratmetern, wo bis unter die Decke gestapelt in eine chaotischen Weise, alles, was man denken konnte, angeboten wurde: runde Kämme in kräftigen Farben, „Tonik“ Kreks, „Maruja“-Schokolade, die man aus Spanien brachte und hier in Portionen für einen halb dirham gekauft wurde, Minze-Sträußchen, große Grießbrot-Torten...

Die Schule war nicht weit weg von dem Strand, deshalb sind wir im Sommer die große Moschee-Straße runter gegangen bis zum „Le Café de Paris“ am „Frankreich-Platz“. Dann sind wir nochmals runtergegangen (ganz Tanger war ein großer Hang, steigend, wenn man kam, fallend, wenn man ging), am Saint Andrews Cementery vorbei, bis zur Spanien-Allee, die an Tangers Küste langläuft. Die Stunden vergingen zwischen Spielen und Scherzen in einem ohne Zweilfel nicht sehr orthodoxen Französisch, das ungehindert mit Wendungen in Arabisch gemischt wurde.

Die Jahre gingen vorbei, manche Freunde auch, andere blieben. Aber meine Liebe zu Tanger hielt sich intakt. Diese Mischung von Kulturen, Akzenten, Düften... war einmalig. Meine Eltern waren wieder nach Frankreich gegangen, wegen einer Atemwegekrankheit meiner Mutter. Sie meinte, das französische Gesundheitshilfesystem sei besser als das System von Marokko, und der Arzt empfahl ihr umzuziehen. Deshalb besuchte ich meine Familie öfters in Bordeaux und wohnte da zeitweise. Manchmal dachte ich, in Frankreich zu bleiben. Es war offensichtlich, dass meine Mutter sehr schwach war und letztendlich Bordeaux war meine Geburtsstadt. Aber am Ende ging ich immer wieder zurück. Tanger zog mich gewaltig an, und die Zeiträume, die ich in Frankreich verbrachte, waren nicht mehr als eine Unterbrechung in das, was ich für mein wirkliches Leben halte. Obwohl ich die Sitten und Gebräuche dieses Dorfs von Bordeaux, die Traditionen meiner Familie, die Luft, die man da atmete sehr gut kannte und mich an sie gewöhnt hatte, waren sie in einer gewissenen Weise fremd für mich.

Außerdem hatte ich einen anderen Grund, um zurückzugehen: Jacqueline. Ein paar Monate, als meine Eltern nach Frankreich umgezogen waren, wohnten wir zusammen in einem Zimmer der Pension Fuentes, die im Zentrum der Stadt lag, im „Petit Zouc“. Obwohl anspruchslos, war sie Schauplatz von vielen Polizeiromanen gewesen; deshalb hoffte ich, dass die mich auch inspririeren würde. Ich hatte schon die Rechtswissenschaft-Karriere beendet, und am Ende konnte ich machen, was ich in Wirklichkeit mochte: schreiben. Jacqueline studierte Philosophie und dieses war ihr letztes Jahr in der Uni. Morgens, als sie in der Klasse war, blieb ich in der Pension, um zu schreiben. Dann ging ich spazieren durch die Medina, und als sie wieder kam, aßen wir zusammen in einem der Cafés auf dem Platz von „Le Grand Zouc“.

Meine Eltern schickten mir kein Geld mehr, aber seit langem besuchte ich sie nicht und ich war schon fertig mit der Uni, deshalb konnte ich nichts beanstanden. Das was Jacquelins Familie ihr gab, war genug, um die Pension jeden Monat zu bezahlen und ließ uns ganz bequem leben. Ich brauchte nichts mehr, für mich war das Universum in Ordnung, und meine Freude erfüllt. Trotzdem, während der letzten Tagen fand ich Jacqueline ein bisschen nachdenklich und unzugänglich. Die Sachen waren gut zwischen uns beiden, deshalb konnte ich nicht verstehen, was los war, aber auf jeden Fall versuchte ich nicht, es zu entdecken. Leider sind die schlechten Sachen die ersten, die man früher oder später kennenlernt, und das passiert normalerweise im Moment, in dem alles sehr gut scheint.

An diesem Abend, wie an vielen anderen, waren wir ins „Café de Hafa“ gegangen, um den Sonnenuntergang zu sehen. Ich betrachtete die Landschaft mit dem Blick ins Leere, sie guckte zerstreut in ihren Tee mit Minze, der voller Bienen war, die ins Glas gefallen sind. Obwohl ich es nicht merkte, bis ich viel Zeit später diese Szene erinnerte, war Jacqueline besonders ruhig an diesem Tag. Sie schaute mich manchmal an, wartend, dass ich fragte, was los mit ihr war. Da ich es nicht machte, wurde sie nervös und steckte eine Zigarette an. Missmutig betrachte sie mein Gesicht voll von Freude und Ruhe, und vielleicht war es das, was sie ermutigte zu sprechen anzufangen.

„Das ist ok- sagte sie- ich weiss wie gut dir diese Stadt gefällt, und ich weiss, dass du die durch nichts ersetzen würdest...aber ich...ich kann nicht viel mehr in Tanger bleiben, ich brauche andere Plätze, muss andere Leute... kennen lernen“- Sie sagte das, und ihre Auge strahlten vor Freude, genauso wie als sie ein kleines Mädchen war. Obwohl viel Zeit vergangen war, bewahrte sie sich dieselbe Innozenz, die ich immer so geliebt hatte, intakt.

Sie sprach ganz ruhig, und stoppte manchmal, um die Zigarette, die sie zwischen beiden Fingern hielt, zu rauchen, versuchend mir Zeit zu geben, um es zu verarbeiten. Sie schaute mich an, als ob sie wartete, dass ich etwas sagen würde, aber ich konnte nicht antworten. Ohne Zweilfel hatte sie über die genauen Wörter nachgedacht und sich meine Reaktion vorgestellt. Weil die wahrscheinlich nichts mit der wahren zu tun hatte, sagte sie weiter: „...ok, du brauchst nicht mit mir zu kommen, aber ich dachte, vielleicht wolltest du es wissen...“ Aus dem Ton ihrer Wörter löste sich eine unermessliche Traurigkeit. Es waren die sechziger Jahren, man erfuhr die „freie Liebe“, und alles was mit Fesseln zu tun hätte war altmodisch, aber was ich soeben hörte, machte mich kaputt. Mehrmals empfand ich Reue darüber, dass ich sie nicht auf ihre Reise begleitete, oder mindestens, ihren Blick, der inständig um ein Wort oder eine Grimasse bat, nicht irgendwie beanwortete... Ich ließ sie weggehen, ersetzte ihre Liebe durch die Liebe, die ich um Tanger fühlte, und gab sie für verloren.

Aber Jacqueline ist nach Tanger zurückgekommen, genauso wie ich immer wieder kam. Und vielleicht habe ich sie noch nicht verloren... Ich fragte mich, wo sie diese ganze Zeit gewesen war, und wie konnte sie sich vorstellen, dass ich noch hier, in derselben Pension wie zwanzig Jahre früher, wäre. Sobald ich die Frage im Inneren zum Ausdruck brachte, fühlte ich Trauer und Scham vor mir selbst; klar, dass sie es wusste, wo wenn nicht?

Als ich mir das überlegte, klopfte jemand an die Tür. Ich stand auf, mit der Sicherheit desjenigen, der sieht, wie passiert, was er erwartet: Da stand meine Patronin mit ausgestreckten Arm und reichte mir ein kleines Papier. „Es ist für Sie“, erklärte sie, damit es keine Zweifel gäbe. „Von Jacqueline Bellevue“ - sagte sie -. „Beauvais“, korrigierte ich sie. Und als ich ihren Namen aussprach, fühlte ich eine sonderbare Nostalgie. Ich dankte meiner Patronin und sie machte die Tür zu. Ich setzte mich und faltete sorgfältig das Papier auf: „Café de Hafa, 18:30“. Es sagte nichts mehr. Eigentlich gab es nichts mehr zu sagen.

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