SERIE: 20 Jahre Mauerfall - Zeitzeugenberichte

27.09.2009 - Hans-Joachim Grimm 

Schon lange warf der Mauerfall seine Schatten voraus. Am 19. Januar versicherte Honecker zwar noch, dass die Mauer - er sagte natürlich „antifaschistischer Schutzwall" - auch in 100 Jahren noch stehen würde, wenn die „dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind."

Wir alle wussten doch inzwischen, dass die Mauer nicht zum Schutz der DDR bestand, weil sie bei einem möglichen Angriff überhaupt keinen Schutz geboten hätte, sondern dass sie ausschließlich dazu diente, die Bevölkerung nicht herauszulassen. Und das sollte noch 100 Jahre so dauern?

Mitte des Jahres erschien eine „Mitteilung des Ministers des Innern", in der letzterer mitteilte, dass „ein von zwei Personen unterzeichneter Antrag zur Bildung einer Vereinigung „Neues Forum" eingegangen ist, geprüft und abgelehnt wurde. Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar. Die Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Gründung der Vereinigung war nicht genehmigt und folglich illegal. Sie ist ein Versuch, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik über die wahren Absichten der Verfasser zu täuschen."

Anfang August sprach Stefan Heym in den „Tagesthemen" zu der Fluchtwelle, die im Sommer eingesetzt hatte. Die Bonzen sollten endlich die Wahrheit sagen, war der Haupttenor seiner Worte.

Aber dazu sind die doch überhaupt nicht fähig, dachte ich. Genauso wie die kaiserlichen Generäle das seinerzeitige Oberkommando im ersten Weltkrieg falsch über die Lage an der Front informiert hatten, genauso wie die Nazis noch ihren Krieg gewinnen wollten, als die Russen bereits in der Reichskanzlei saßen, genauso wollen die Bonzen mit ihren alten Methoden noch den „Sozialismus aufbauen", während Polen und Ungarn bereits zugaben, dass dies ein von Stalin aufgezwungenes System war, aus dem man schnellstens wieder herauskommen müsse.

Am 19. August veranstalteten ungarische Oppositionelle in der Nähe von Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze ein sogenanntes Paneuropäisches Picknick. Zahlreiche DDR-Urlauber durchbrachen hier die Absperrung und flüchteten nach Österreich.

Die Mauer bekam ihren ersten Riss.

Am 11. September öffnete Ungarn seine Grenzen und ließ alle DDR-Flüchtlinge in den Westen reisen, begleitet von einem kaum überbietbaren westlichen Medienrummel. Ich fragte mich: Was ist das für eine Staatsführung, der man so vor aller Welt eine schallende Ohrfeige versetzen kann? Alle waren schadenfroh, dass die starrsinnigen Bonzen so öffentlich gedemütigt wurden.

Alexander erzählte mir, es gebe jetzt einen neuen Gruß: „ND! ND?" Was heißt denn das? „Na du, noch da?"

Überall erschienen jetzt Manifeste und Erklärungen. Das P.E.N.-Zentrum der DDR äußerte seine „Bestürzung gegenüber dem Versuch staatlicher Stellen, Zusammenschlüsse, die von der tiefen und berechtigten Sorge um die Zukunft des Staates und der Gesellschaft getragen sind, ungeprüft für verfassungswidrig zu erklären... Mit Empörung erfüllt uns die vielfach bezeugte und menschenverachtende, mit physischem und psychischem Terror verbundene Behandlung festgenommener Bürger durch Sicherheitskräfte der DDR..."

Die Akademie der Künste meinte: „Entscheidungen, die Bürger unseres Landes betreffen, müssen für diese begründet und durchschaubar sein. Wo dies nicht der Fall ist und Anonymität waltet, entsteht ein ohnmächtiges Bewusstsein der Bevormundung..."
Die Perestroika war auch in der DDR angekommen. Nun wurden Meinungen veröffentlicht, für die man vor einiger Zeit vielleicht noch ins Gefängnis gekommen wäre.

Wie aus vergangenen Zeiten klang dagegen, was Anfang Oktober in der Zeitung über „ehemalige Bürger der DDR" stand, „die sich rechtswidrig in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau aufhielten und über die Deutsche Demokratische Republik in Zügen der Deutschen Reichsbahn in die BRD abgeschoben wurden. Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selber aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen."

Einige Tage später meinte das SED-Politbüro aber: „Der Sozialismus braucht jeden... Gerade deshalb lässt es uns nicht gleichgültig, wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten, von unserer Deutschen Demokratischen Republik losgesagt haben."

Am Sonnabend, dem 4. November, fand eine lange vorher angekündigte große Protestdemonstration statt. Kurz nach acht stand ich auf und fuhr erst einmal zur Friedrichstraße, weil ich sehen wollte, wie die Polizei das Gelände zum Brandenburger Tor abgesperrt hatte. Dann fuhr ich zurück zum Alex, wo die Demonstration schon in vollem Gange war, obwohl sie doch erst um 10 beginnen sollte. Es war für mich ein unvergessliches Bild - dieser Wald von Plakaten, Transparenten und Spruchbändern. Ich konnte gar nicht so schnell alles lesen. Der Zug bewegte sich die Karl-Liebknecht-Straße hinauf zum Palast der Republik, schwenkte dort nach links ab und zog am Kulturministerium am Molkenmarkt wieder zurück zum Alex.

Kein Thema blieb auf den Transparenten unausgesprochen, »Ein schon älteres Ehepaar trug ein kleines Plakat: „40 Jahre SED - 40 Jahre Chaos." Wie kühn! Und das konnte man nun öffentlich sagen! Alles, was über die Bonzen bereits durch meinen Kopf gegangen war, las ich nun auf den Plakaten. Eines enthielt nur zwei Worte: „Danke, Ungarn!"
In der Nähe des Alexanderplatzes hatte ich - nebenher laufend - die Spitze des Demonstrationszuges erreicht. Mehrfach forderten Sprechchöre auf: „Bürger, lasst das Glotzen sein, kommt herbei und reiht euch ein." Ich drehte mich um und sah nun die Demonstration auf mich zukommen. Auf einem breiten Band stand „Protestdemonstration." Mit Bewunderung betrachtete ich die Männer und Frauen, die in der ersten Reihe gingen und das Spruchband hielten. Auf dem Alexanderplatz waren Gestelle mit Kameras aufgestellt, die den entgegenkommenden Zug filmten.

Nach einiger Zeit begann die Kundgebung. Viel Schönes und Menschliches wurde gesagt - es war ja eine Veranstaltung von Künstlern. Jemand schlug vor, die Transparente zu sammeln, um sie in einer „Ausstellung für neue Kunst" zu zeigen. Die Schauspielerin Brigitte Mira verlangte zum Schluss der Kundgebung von der Regierung das, was sie jetzt auch tun wollte - abtreten!

Am 6. November wurde das „Reisegesetz" veröffentlicht. 30 Tage vorher musste man eine Reise beantragen. Recht auf Devisen hatte man nicht, und „wenn dies zum Schutze der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder der Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist," durfte man überhaupt nicht reisen. Außerdem konnte man nur 30 Tage im Jahr fahren.

Am Abend erfuhr ich im Fernsehen, dass Regierung und Politbüro zurückgetreten seien. Darauf trank ich gleich bei uns im „Espresso" ein Glas Sekt und spendierte der Kellnerin auch eins.

Am 9. November verfolgte ich in unserer „Tagesschau" die Pressekonferenz, auf der das Politbüromitglied Günter Schabowski fast so ganz nebenbei sagte, jeder DDR-Bürger könne jetzt kurzfristig ein Visum beantragen, um nach dem Westen zu reisen, und dass die Genehmigungen dazu kurzfristig erteilt werden. Ich nahm an, nun würden lange Schlangen vor den VP-Revieren stehen. Da stelle ich mich doch nicht mit an! dachte ich. Nun habe ich so lange gewartet, da spielen ein paar Tage mehr auch keine Rolle.

Als ich nach der Pressekonferenz im „Espresso" noch ein Glas Wein trank, kam mir die Kellnerin, mit der ich Tage zuvor ein Glas Sekt auf den Rücktritt der Regierung getrunken hatte, sofort entgegen gesprungen und fragte, ob ich von der Öffnung der Grenzen gehört hätte. Ich gab eine scherzhafte Antwort, da ich glaubte, so bald käme das für mich ohnehin nicht in Frage.

Als ich am anderen Morgen die Fernsehbilder von den über die Grenzübergänge strömenden jubelnden und weinenden Menschen sah, ärgerte ich mich natürlich ein bisschen, dass ich das verschlafen hatte.

Am 10. November rief meine Freundin Hannelore an. „Hans-Joachim, laß uns doch mal an diesem historischen Tag zu den Grenzübergängen gehen, um zu sehen, was da los ist." Am „Checkpoint Charlie" an der Leipziger Straße, der eigentlich nur für westliche Armeeangehörige und Ausländer bestimmt war, erblickten wir die erste „Riesenschlange." Wir fragten jemanden, was man zum Grenzübertritt brauche und hörten, bis zum 16. käme man einfach unter Vorlage seines Personalausweises über die Grenze.

Darauf gingen wir zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße, in der Hoffnung, dass es dort nicht so voll sein würde. Als wir also von der Leipziger Straße abbogen, erblickten wir vor einem Gebäude wieder eine Schlange, die sich aber verhältnismäßig schnell fortbewegte. Wir erfuhren, dass sich dort eine Dienststelle der Volkspolizei befand, die Visa für den Grenzübertritt ausstellt, denn mit Personalausweis kam man ja nur bis zum 16. über die Grenze.

Schnell gelangten wir in den oberen Stock der Dienststelle, und dort hörten wir zu unserem Erstaunen eine VP-Angehörige sagen: „Wer ganz ausreisen will, geht nach rechts, wer nur ein Visum haben möchte, gibt mir seinen Ausweis." Wie ein Märchen klang es uns in den Ohren, dass eine Mitarbeiterin der Volkspolizei so leidenschaftslos sagte, „wer ganz ausreisen will". Noch vor kurzem hatte man „Ausreisewillige" wie Vaterlandsverräter angesehen.

Nach kurzer Zeit hatten wir unser Visum im Ausweis, das uns bis zum 10. Mai 1990 berechtigte, insgesamt 30 Tage lang nach Westberlin und der BRD auszureisen. Wie ich später sah, hatte man anderen Leuten Visa eingestempelt, welche diese 30-tägige Begrenzung nicht vorsahen. Es herrschte also nach wie vor das gewohnte Chaos.

Nun zogen wir zur Heinrich-Heine-Straße. Auch dort stießen wir auf eine Schlange, die allerdings kürzer war als die am „Checkpoint Charlie." Wir reihten uns ein, und nach vierzigminütigem Warten waren wir „drüben." Allerdings war der Kontrolliervorgang und das Hinübergehen überhaupt bedrückend. Zunächst einmal wurde dreimal kontrolliert. Man musste den aufgeschlagenen Personalausweis mit dem Passbild zeigen, ein Polizeibeamter verglich flüchtig, und fertig war die „Kontrolle." Dann ging es weiter durch einen Gang, durch den sich nur eine einzige Person bewegen konnte (und sicherlich nicht einmal eine dicke). Da begriff ich so richtig, wie gründlich wir 28 Jahre lang eingesperrt gewesen waren.

Als wir dann auf der Westberliner Seite herauskamen, wurden wir von Westberlinern herzlich mit Händeklatschen begrüßt. Einige hielten sogar Blumen in den Händen, und einer fragte, ob uns denn das nicht gefallen würde, so im Mittelpunkt zu stehen. Ich erwiderte darauf, viele Menschen auf einem Haufen seien mir ein Gräuel, und Hannelore meinte hinterher: „Das hättest du nicht sagen sollen, Hans-Joachim. Die Freude dieser Leute ist doch ehrlich. Kein Mensch zwingt sie, sich dort in der Kälte hinzustellen und die „Ostler" zu beklatschen. Warum verdirbst du denen die Freude?"

Meine Reaktion hatte eigentlich tiefere Gründe. Ich dachte ja Politik immer persönlich: Den „Osten" verglich ich mit meinem zwar trägen, aber nicht prügelnden Vater, den „Westen" dagegen mit meiner aktiven, aber prügelnden Mutter. Die Leute, die uns hier so freundlich begrüßten, vertraten ja in meinem Denken den „Westen." Daher meine Skepsis.

Wir waren also nur daran interessiert, möglichst rasch aus dem Trubel herauszukommen. An der Seite erblickten wir ein riesiges Schild mit den Worten: „Wer einen Tag in der Freiheit erlebt, bekommt Kraft, um weiter für den Sozialismus zu kämpfen." Humor hatten sie ja, die Westberliner.

Westberlins Leben sprang uns sofort in Gestalt riesiger Werbeflächen und lärmender Jugendlicher an. Wir befanden uns in Kreuzberg, dem sogenannten Türkenviertel. Überall Läden mit türkischen Aufschriften, die mich natürlich sehr interessierten. Ansonsten machten die Häuser auf uns einen heruntergekommenen Eindruck.

Aber noch etwas sprang uns an: Viel aufgesprühte Aufschriften, die zur Solidarität mit den Kurden, mit der Dritten Welt und zum Kampf gegen das kapitalistische System aufriefen. In einem türkischen Laden hing ein großes Bild von Gorbatschow. Auf einer Mauer las ich die Worte: "Isohaft ist Mord." Das erinnerte mich an die Proteste Jugendlicher gegen die Haftbedingungen für gefasste Terroristen in den BRD-Gefängnissen. Ich hatte ja oft davon gehört, dass junge Häftlinge in Isolier-bzw. Einzelzellen untergebracht waren, um sie moralisch zu zerbrechen. Und ich dachte: Mein Gott, die Kapitalisten sind ja gegen ihre Gegner genauso gemein wie unsere Bonzen gegen ihre!

Vor einer Sparkasse stand wieder eine lange Schlange. Dort konnte sich jeder DDR-Bürger gegen Vorlage seines Ausweises 100 Westmark „Begrüßungsgeld" abholen. Wir stellten uns an. Ein junges Mädchen mit einem Schreibblock kam heran und fragte nach unseren ersten Eindrücken in Westberlin. „Hier ist es ja genauso dreckig wie bei uns," sagte ich, und die um uns herum stehenden wartenden DDR-Bürger nickten bestätigend mit dem Kopf. Da war das Mädchen traurig, schrieb nichts auf und ging weiter.

Nach einigem Warten waren wir dran. Gegen Vorlage des DDR-Ausweises wurde eine weiße Karte ausgefüllt, in der Name und Vorname sowie die Personalausweisnummer eingetragen wurden. Außerdem musste man mit Vor- und Zunamen unterschreiben. Nun haben sie dich also auch in der westdeutschen Kartei, dachte ich. Genauso wie sicherlich in der vom Staatssicherheitsdienst.

Allmählich wurde es dunkel. Wir zogen ziellos eine Straße hinunter und erblickten weitere Schilder: „Wir begrüßen die Bewohner der DDR" oder „Ein herzliches Willkommen den Besuchern aus der DDR." Ausgeben wollten wir nichts. Auf einem Markt wurden riesige Mengen Obst und Südfrüchte angeboten. Drei Kilo Bananen für 5 Mark bot ein Türke an. Bei uns zahlte man fürs Kilo etwa 7 bis 8 Mark, und oft gab es ja auch keine Bananen.
Dass viel Radfahrer unterwegs waren, fiel uns auf. „Sicherlich, weil die öffentlichen Verkehrsmittel so teuer sind," mutmaßte Hannelore.

An einigen Stellen besahen wir uns das reiche Warenangebot. Aber ich dachte immer nur an Sokrates' Ausspruch: „Wenn ich so viele Sachen sehe, freue ich mich immer, wie wenig ich davon brauche." Und dann die seltsamen Preise! Fast alles kostete 2,99 oder 5,99 oder 4,49 Mark. Psychologische Preise sollen das sein, hatte ich irgendwann einmal gehört, denn 2,99 Mark seien eben doch nicht 3 Mark.

Wir gingen wieder zurück. Diesmal kamen wir schnell durch. Uns fiel auf, dass es die Meisten schrecklich eilig hatten. Irgendwie war ich wieder froh, in unserem nüchternen, gewohnten „Osten" zu sein. Die hektische Betriebsamkeit des Westens hatte mir, der ich die Ruhe über alles liebte, nicht gefallen.

Mit freundlicher Unterstützung der Zeitzeugenbörse, Berlin: www.zeitzeugenboerse.de

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