Der spanische Patient
09.04.2012 -
»Ich war schon im Leibchen, halbnackt, dann haben sie mich nicht in den Operationssaal gelassen«, so Apolonio P., Anfang sechzig, gegenüber der Zeitung »El Mundo«. Statt des lange beantragten Schultereingriffs in einem Hospital in Valencia gab es eine kurze Erklärung: Leider war gerade kein Spezialgerät für die Anästhesie von Patienten mit Atemproblemen disponibel. Und selbst wenn der Apparat verfügbar gewesen wäre, hätte sich zu diesem Zeitpunkt kein Fachmann gefunden, der ihn hätte bedienen können, bekam Apolonio zu hören. Zum besseren Verständnis sei nachgeschickt, dass er nicht unangemeldet in der Klinik aufgetaucht war. Tags zuvor hatte er sein Bett bezogen und eineinhalb Jahre auf diesen Termin gewartet ...
»Am besten nicht krank werden!«, lautet seit jeher die Devise in Spanien. Der Hauptpatient ist das öffentliche Versorgungssystem, das an allen Ecken und Enden krankt und ständig vor dem Kollaps zu stehen scheint. Wartelisten, hoffnungslose Überlastung eines zu knappen Personals, mitunter Mangel an Motivation, ob in Krankenhäusern oder den zentralisierten Gesundheitszentren der Sozialversicherung. Derlei Dauer- ist der Normalzustand.
Verschärfend hinzu kommt die spanische Zahlungsmoral, um die es mentalitätsbedingt nicht zum Besten bestellt ist. Öffentlichen Krankenhäusern hängt die Schuldenlast wie ein Krebsgeschwür an, Bezahlungen von Rechnungen verschiebt man gerne auf das ewige Morgen – wogegen Lieferfirmen von medizinischem Material verständlicherweise rebellieren und manchen Nachschub einstellen. Was wiederum erklären mag, warum unlängst für die vorgesehene Operation einer Schwangeren in derselben Valencianer Klinik, in die sich Apolonio begeben hatte, ein Spezialfaden fehlte. Der Fall lag klar auf der Hand und zum Glück noch nicht auf dem Tisch: Was geöffnet werden sollte, musste auch wieder verschlossen werden. Wie das Problem nach zehnstündiger Verspätung des Eingriffbeginns letztlich gelöst wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht hatte jemand aus Privatbeständen eine Rolle Paketkordel oder Zahnseide besorgt, die sich reißfest verwenden ließ.
Unter den Vorzeichen von medizinischem Improvisationsgeschick und learning-by-doing finde ich es bezeichnend, dass die heiligen Kosmas und Damian auch in Spanien weithin Verehrung genießen. Die Brüder – spanisch: San Cosme y San Damián –, die mutmaßlich aus dem Orient stammten und zu Römerzeiten lebten, fungieren als Schutzheilige der Ärzte, einige spanische Kirchen sind nach ihnen benannt. In Orten wie Covarrubias und Abarán feiert man ihnen zu Ehren Patronatsfeste Ende September, im Dommuseum von Burgos habe ich zuletzt ein besonders schönes Altargemälde ihres »Beinwunders« gesehen.
Die Überlieferung des Mirakels berichtet, dass Kosmas und Damian einmal eine Amputation vornahmen und – mangels Alternativen der Not gehorchend – das schwarze Bein eines Verstorbenen an den weißen Stumpf eines Lebenden setzten. Ohne Narkose, der Mann war eingenickt. Das in der Nacht angenähte Ersatzteil passte und hielt. Hätte man bei Apolonio in Valencia nicht einfach die Tiefschlafphase abwarten können ...?
Das Schwarze ans Weiße – ich fürchte, dass in spanischen Krankenhäusern jederzeit mit Vergleichbarem zu rechnen ist und empfand es als sonderbar, dass ich just am Tag meiner Bildbetrachtung in Burgos ins Stadtspital musste. Zu vorgerückter Stunde in die Notfallaufnahme, als Pflichtbegleiter einer Deutschen mit einer Beinverletzung! Der Knöchel war verknackst, sie hatte größte Mühe aufzutreten und weder von Spanien noch Spanisch die leiseste Ahnung.
»Geh' nur in die Notfallabteilung, wenn gerade Fußball läuft, am besten Real Madrid gegen Barcelona, dann ist es bei uns meistens leer«, so der immergültige Rat einer befreundeten Krankenschwester, Mariaje.
Leider lief an diesem Abend kein Fußball. Mein Rat an die Knöchelverknackste, im Hotelzimmer zu bleiben und einen Salbenverband anzulegen – das äußerste Resultat, was ich von einem Krankenhausbesuch erwartete –, blieb ungehört.
»Ins Spital!«
Ersetzt wurde im Stile von San Cosme y San Damián letztlich nichts, die Verweildauer in der Klinik lag jedoch bei mehreren Stunden. Nach Röntgenaufnahmen und ärztlichem Kurzcheck bedachte man den Knöchel mit einem Verband (ohne Salbe – da lag ich mit meiner Prognose daneben) und die Frau mit dem aufschlussreichen Hinweis, sich bis auf Weiteres zu schonen.
Die lange Wartezeit gab mir gegen meinen Willen Gelegenheit, mich auf den aktuellen Stand der Dinge in einem spanischen Provinzkrankenhaus zu bringen. »Da sah es ja aus wie bei uns vor dreißig Jahren«, befand die Knöchelbehandelte später.
Das Umfeld war nichts für Genießer. Rollbetten an den Seiten des Gangs, gefüllt mit lebenden Toten, so schien es mir. Und Rollbetten in offenen, provisorischen Abstellzimmern, auf einer Matratze eine ältere Spanierin, die vor Schmerzen stöhnte. »Ai, ai, ai«, hallte es unablässig durch den Raum. »Wir sind seit heute Mittag hier und warten immer noch auf den richtigen Arzt«, klärte ihr Mann die übrigen Anwesenden kurz vor Mitternacht auf, »sie hat mehrere Rippen gebrochen.«
Was aus der Leidensgeschichte Apolonios geworden ist, weiß ich nicht. Nach seiner Abweisung vor den Toren des Operationssaals der Valencianer Klinik wurde der Krankgeschriebene ungeheilt nach Hause entlassen: »In drei oder vier Monaten rufen sie mich wieder an, haben sie gesagt.«
Paradoxie des Schicksals: Eigentlich arbeitet Apolonio im selben Krankenhaus als Klempner. Bleibt zu hoffen, dass die Spitalrohre bis zu seiner Genesung halten.
Andreas Drouves
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