03.06.2020 - Annette Scholz
Jetzt weiß ich, wieso ich während der Quarantäne nach Jahren endlich wieder gut und fest schlafen konnte, der Geräuschpegel war zehn Wochen lang deutlich niedriger. Am ersten Freitag in Phase 1 war wieder einiges los auf den Straßen Montecarmelos. Straßencafés waren besetzt, Gruppen von Jugendlichen unterwegs, Parties wurden wieder auf dem Balkon gefeiert und meine Freunde hatten ihr erstes Date seit drei Monaten. „Interessant zu sehen, dass die Spanier anders Bruchrechnen als wir”, meinte Alex nach dem langersehnten Dinner mit seiner Frau, „scheinbar vertauschen sie Zähler und Nenner: statt halb so viele Tische standen überall zweimal so viele auf den Terrassen. Und Restaurants, die sonst gar keinen Outdoor-Service haben, bestuhlen auf einmal den ganzen Straßenzug.” Die Karten sind neu gemischt. Das Leben geht weiter oder fängt wieder von vorne an.
Nachdem ich trotz des mittlerweile ungewöhnlichen Lärms eingeschlafen war, blieb ich die ersten Stunden jedoch nur in einem leichten Halbschlaf, gestört durch den lautstarken Gesang einer Gruppe von Jugendlichen in der Nähe meines Schlafzimmerfensters. Irgendetwas von banderas wehte ein laues Sommerlüftchen an mein Ohr, was nicht gerade friedvoll und harmonisch klang. In meine Träume schlich sich dann ein Volkslied, begleitet von Tönen eines militärischen Marschs und wurde immer mehr zu einer irritierenden Kakophonie. Dieses konfuse Zusammenspiel von nationalistischen Tönen mit Sommerparties brachte mir die Ereignisse der letzten Woche wieder in Erinnerung.
Während die Topftrommeln an den Fenstern langsam verstummen, geht der politische Krieg auf einer ideologischen Ebene weiter. Einige sagen, der öffentliche Protest verebbe, weil die Golfplätze wieder offen seien. Ich glaube, es liegt daran, dass tatsächlich wieder eine Art Normalität auf der Tagesordnung steht, bei der man manchmal fast zu wenig merkt, dass sie anders ist, als vorher – eine Normalität mit Maske.
Hingegen gibt es Krach zwischen den beiden entgegengesetzten politischen Flügeln. Sánchez’ Regierung hat eine Kommission für den sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes einberufen, doch statt sich um die Dinge zu kümmern, für die sie ins Leben gerufen wurde, führen die Politiker zunächst einmal mehr eine gegenseitige aggressive Schuldzuweisung durch.
Während seiner Intervention in der Kommission letzte Woche, führte der Vizepräsident Pablo Iglesias, der linken Partei Podemos einen sehr ideologischen Diskurs und erhob Anklage gegen die Opposition. Er versicherte, dass die rechtsradikale Vox-Partei mit ihrer Auto-Karawane einen Staatsstreich initiieren wollte aber sich schließlich nicht getraut habe, diesen auch bis zum Äußersten zu führen. Diese Beschuldigung richtete sich an den Parlamentssprecher für Bildung im Kongress, Iván Espinosa de los Monteros, der aus Protest gegen Iglesias Worte den Konferenzraum verließ.
An ihren Anstand appellierend, forderte der Vizepräsident auch von der PP ein Eingeständnis ihrer Fehler ein, denn ihre jahrelange Politik der Kürzungen und Privatisierungen als Regierungspartei unter Mariano Rajoy habe Spanien geschwächt und dadurch das Gesundheitswesen destabilisiert und für die Angriffe des Coronavirus empfindlich gemacht. „Der Wiederaufbau nach der Corona-Krise muss mit denselben Kriterien angegangen werden, wie der nach 1929 und nach dem Zweiten Weltkrieg, und nicht wie nach der Finanzkrise von 2008″, sagte er. Sein Vorschlag ist eine Wiederaufbau-Steuer auf großes Vermögen, um vor allem diejenigen zur Kasse zu bitten, die es sich leisten können und damit ein umverteilendes Steuersystem zu schaffen. Und damit richtet er sich vor allem an die, die vor kurzem noch auf der Straße protestiert haben, weil schon alleine das Protestieren ein Luxus war. – Die destruktiven Kundgebungen der rechtsgerichteten Fraktionen der letzten Wochen werden jetzt schon als die Revolutionen der Reichen bezeichnet.- Er forderte die Opposition zwar zur Zusammenarbeit auf, setzte mit seinem Angriff aber wahrlich keinen konstruktiven Grundstein.
Dieses rote Tuch ließen die Verantwortlichen der PP diesmal aus. Was Iglesias in den vergangenen Legislaturperioden findet, suchen Anhänger der Opposition hingegen in der kürzlichen Vergangenheit und weisen die Corona-Schuld der jetzigen Regierung zu, zurückführend auf die Genehmigung der Demonstrationen anlässlich des Weltfrauentags am 8. März trotz aktueller Informationen bezüglich der sich schnell ausbreitenden Pandemie.
Gegenseitig betreiben die großen Parteien Schuldzuweisungen und vergeuden ihre Energien, indem sie sich und die vom Gegner gewählten Partner kritisieren. Hingegen ruft König Felipe in seiner Botschaft zum Tag der Streitkräfte zur Einigkeit auf. „So ein Kindergartenverein!”, kommt mir dabei in den Sinn. Die Kinder streiten sich und der antiautoritäre Vater fordert sie zum gemeinsamen Spiel auf – wieso können denn nicht alle diese Schuldzuweisungen erstmal einstellen? Ist es nicht völlig gleichgültig, wer an allem schuld ist? Vor allem, weil wohl von beiden Seiten Fehler gemacht wurden. Die Hauptsache ist doch, dass nicht noch mehr Schaden entsteht und wir alle die Krise schnellstmöglich überstehen.
Trotz des Alarmzustandes treffen sich in dem Madrider Stadtviertel Villaverde schon seit einigen Wochen junge Männer in einem öffentlichen Park zum Fight Club. Brad Pitt sei leider nicht dabei und auch Edward Norton lasse sich in dem südlichen Arbeiterviertel der Metropole nicht blicken, so die Medien. Aber sie schlagen auf einander ein, ohne Boxhandschuhe und werden von den Umstehenden angefeuert, die Gegner bis in den Tod zu vermöbeln. Brutal ist diese Verfahrensweise, die sich nicht viel von den politischen Methoden unterscheidet.
Während sich die Politiker aus beiden Lagern verdreschen und Schuldige suchen, werden in verschiedenen spanischen Regionen neue Corona-Fälle aufgrund von Gruppenansammlungen und Parties verzeichnet. Ceuta auf dem afrikanischen Kontinent droht ein Rückschritt in Phase 0, obwohl sie schon in 2 sind – wie beim Mensch ärger dich nicht, leider kurz vor dem Häuschen rausgeschmissen. Wieder zurück zum Start!
Nach der aktuellen Stimmung auf der spanisch-deutschen Insel Montecarmelo und den lautstarken Familienbesuchen bei den Nachbarn zu urteilen, würde mich auch hier ein Corona-rebrote, nicht wundern. In der Avenida Monasterio de El Escorial hat sich wie am Ballermann auf Mallorca die Partymeile entwickelt. Es fehlen nur noch die Eimer mit Sangría und den langen Strohhalmen, die aber gar nicht corona-kompatibel sind, sei denn sie werden als Abstandshalter eingesetzt, da diese gar nicht umweltfreundlichen Halme, soweit ich weiß, ja jeweils einen Meter lang sind.
In Italien wird jetzt alles wieder normalisiert und die Grenzen werden geöffnet, wir hingegen müssen uns noch eine Weile mit unseren Masken, Phasen und Ausgangszeiten herumschlagen. Damit wird psychologisch zumindest eine Hemmschwelle geschaffen, die uns davon abhält einfach wie vorher zu sein. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung hält sich ja an die Auflagen, damit ist schon mal eine Basis geschaffen, um nicht in ein paar Wochen wieder ganz zu Hause bleiben zu müssen.
Die Verlängerung des Alarmzustandes, die für nächste Woche wieder auf dem politischen Diskussions-Programm steht, wird wie auf einem Basar vermarktet. Die Zustimmung, die sich Sánchez von den einzelnen politischen Parteien schon im Vorfeld des Antrags zusichern möchte, scheint eine Handelswährung, mit der andere politische Angelegenheiten, die schon lange im Argen liegen, eingetauscht werden. Die katalanische Partei ERC verspricht sich bei der nächsten Abstimmung zu enthalten, statt wie beim letzten Mal dagegen zustimmen, wenn sie dafür die europäischen Wiederaufbaumittel mitverwalten darf. Auch die Wiederaufnahme der Autonomie-Verhandlungen stellen einen Teil ihrer Bedingungen dar. Alles hängt irgendwie zusammen und jeder versucht seine Vorteile auf politischer Ebene aus dieser Krise zu ziehen.
Da das Schlimmste zunächst vorüber ist, werden auch persönlich neue Kräfte frei, um zunächst beigelegte Konflikte wieder aufzunehmen. Die Kommunikation mit dem Vater meiner Tochter, die sich während der sieben Wochen der Quarantäne stark intensiviert hatte, um, wenn auch auf Distanz, den familiären Zusammenhalt zu fördern, ist wieder zu seiner manchmal stockenden und schwerfälligen Frequenz zurückgekehrt. Auch das ist ein Schritt in Richtung neuer Normalität, auf den ich liebend gerne verzichtet hätte. Und nicht nur das. Dinge, die liegen geblieben waren, weil man sie wegen der Ausgangssperre nicht erledigen konnte, müssen jetzt doch noch bearbeitet werden, so wie vieles, was nicht gesagt wurde, auf einmal über die Lippen kommt und die Nahestehenden mit zweimonatiger Verspätung doch noch verletzt.
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