Vom deutschen Kinderwagenwesen

22.04.2014 - Andreas Clevert 

Ich halte mich für völlig normal. Ich kann problemlos einkaufen gehen. Keiner dreht sich nach mir um. ‚Normal‘ ist aber nicht europäisch definiert. Wenn ich in Deutschland ganz normal mit meinem Fahrradanhänger und den zwei Jungs unterwegs bin, dreht sich keiner nach uns um. Machen Sie das mal in Madrid!

Wir haben unseren Anhänger aus Deutschland mit nach Madrid genommen. Wer sich auskennt: Die Teile sind im Regelfall so sündhaft teuer, dass man sie amortisieren muss, solange der Nachwuchs reinpasst. Also: Mit nach Madrid. Lassen sich ja auch gut ohne Zweirad als Kinderwagen nutzen. So gehen wir auch hier einkaufen. ¡Qué chulo!, ¡que mono! Mira, mamá, papá, Juan, María, etc.... ist das dann Normale, was einem zu Ohren kommt. Findet man zwei Tage lang spannend. Ab dem dritten nervt es. Wenn ich normal meine Einkäufe im Kofferraum verstaue, interessiert dies meinen Parkplatznachbarn wenig. Wenn ich den Anhänger zusammenklappe und in den Kofferraum bugsiere, glotzt in einem Zwanzig-Meterradius alles, was zwei Beine/Augen hat. Als würde ich gerade die Hinterlassenschaften meines letzten Mordes öffentlich entsorgen. Es nervt, sage ich Ihnen! Vor allem, wenn Ihr Kofferraum nicht gerade Übergröße hat.
Für diejenigen, die sich das mit dem Kinderanhänger so nicht vorstellen können: Überlegen Sie mal, wenn Sie Ihre Schuhe schnüren wollten, und um sie herum würde sich eine Traube interessierter Mitmenschen bilden. In einem Land vielleicht, welches nur Klettverschlussschuhe kennt.

Wenn wir die klassischen Kinderparadiese im Madrider Umland besuchen (Faunia-Tierpark, Warner-Vergnügungspark) bin ich manchmal versucht, unser Eintrittsgeld zurückzuverlangen, und doch bitte uns im Park als weiteres Highlight im Übersichtsplan eintragen zu lassen (etwa: Flugschau um 11:00 Uhr und 18:00 Uhr, Seehunde um 12:00 Uhr und 17:00 Uhr, Radanhänger um 15:00 Uhr, alles im großen Theaterrund).

Schlimmer ist es noch, wenn wir den Radanhänger wirklich als Radanhänger nutzen. Da bekommt man das Gefühl nicht los, mit einem Erlkönig unterwegs zu sein. Kameras werden gezückt, das Rad samt Anhänger umrundet. Die dezentere Variante: der sportliche Madrilene überholt, wirft einen unauffälligen Blick zurück, fällt fast vom Rad in der Erkenntnis, dass dort sogar zwei Kinder Platz haben. Etwas später lässt sich der gleiche Pseudo-Gelbes-Trikot-Mensch diskret zurückfallen, um das ganze Manöver zu wiederholen.
Apropos Tour de France: Ich verstehe auch nicht, warum die spanischen Zweiradler es nicht schaffen, in Alltagsklamotten auf ihren Drahtesel zu steigen. Contador und Ullrich lassen grüßen – dieses Outfit muss schon sein. Der Perspektivwechsel sei den lieben Mit- und Südeuropäern hier aber auch gegönnt: Sie verstehen wahrscheinlich meinen Aufzug mit Jeans und T-Shirt (womöglich mit hochgerolltem Hosenbein) ebenso wenig, wie ich etwa einen Tennisspieler im Smoking für normal halten würde.

Die Höhe war aber wirklich, als ich letzthin im Berganstieg dachte, wieder das übliche Überholmanöver zu erleben. Dieser ciclista wollte doch wirklich ganz mutig mit mir in ein technisches Gespräch einsteigen. Ja, wo denn gekauft, das Gewicht, wie steht es mit dem Ankupplungsmechanismus, die Klappbarkeit, etc. In der Madrider Bergfahrt auf dem añillo verde mit geschätzten zusätzlichen 40 kg auf der Wade, blieb mir leider wenig Luft zum Sprechen. Man ist ja höflich. Aber ich glaube nicht, dass Contador in der Pyrenäenauffahrt bereit ist, Interviews zu geben.

Andreas Clevert lebt mit seiner spanischen Frau und drei Jungs (6, 4 und knapp 2 Jahre) in Bonn und Madrid. Er ist gefühlter Elterngeldveteran mit 36 Monaten Väterzeit und fällt damit aus den Charts des Bundesfamilienministeriums. Ach ja, natürlich hasst er den Begriff ‘Vätermonate’. www.vaterdasein.wordpress.com

Kommentare (2) :

Kommentar von Admin 28.05.2014

Kommentar von Admin 04.06.2015

Blog kommentieren
Blog-Archiv
  • 09.11.2020 [Kommentare: 0]

    Corona-Bombe

    „Kannst du Emma heute von der Schule abholen?”, erreichte mich unerwartet eine Nachricht von Emmas Vater Hugo, als ich erst gefühlte fünf Minuten im Büro war und noch nicht einmal ansatzweise ein Viertel meiner täglichen Festivalarbeit erledigt hatte.. Blog weiterlesen

  • 05.10.2020 [Kommentare: 0]

    Klassengesellschaft

    Neulich saßen wir mit unserem diesjährigen Festivalteam, das aus Luis, mir und drei Praktikanten besteht, in der Pause wieder in unserem Stammcafé in Alcalá, San Diego Coffee Corner, ein modernes Lokal an einer der Ecken der zentralen Plaza de los Ir.. Blog weiterlesen

  • 03.06.2020 [Kommentare: 0]

    Die Suche nach den Schuldigen

    Jetzt weiß ich, wieso ich während der Quarantäne nach Jahren endlich wieder gut und fest schlafen konnte, der Geräuschpegel war zehn Wochen lang deutlich niedriger. Am ersten Freitag in Phase 1 war wieder einiges los auf den Straßen Montecarmelos... Blog weiterlesen

  • 26.04.2019 [Kommentare: 2]

    Spanien bringt mich in Versuchung

    Schon seit fast einem Jahr bin ich zur vegetarischen Ernährung übergegangen, aus ethischen und ökologischen Gründen. Das heißt, ich versuche es zumindest. Mir war schon bewusst, dass es in Spanien etwas schwieriger werden würde – aber, dass ich so.. Blog weiterlesen

  • 04.02.2019 [Kommentare: 0]

    Die Chinos – eine Welt für sich

    Als ich neulich mit einer Freundin von Zuhause telefonierte, erwähnte ich beiläufig den Chino in meiner Straße. “Chino?” fragte sie. Ach ja – die Chinos haben wir ja in Deutschland gar nicht. Doch wie beschreibt man dieses “Phänomen” am besten? Die.. Blog weiterlesen

  • 14.01.2019 [Kommentare: 0]

    Es ist nie zu spät!

    Immer wieder die gleiche Diskussion: “¡A las 7 de la tarde no se cena!” – Um sieben Uhr nachmittags isst man noch kein Abendessen! “Ich hab aber jetzt schon Hunger!” “¡Es porque has comido hace horas!” - Du hast ja auch schon vor ‘ner Ewigkeit .. Blog weiterlesen

  • 08.08.2018 [Kommentare: 0]

    Im deutschen Exil – ganz scharf

    Manchmal lebt unsere Familie ja das deutsch-spanische Kauderwelsch. In sämtlichen Belangen. Sei es, dass der Nachwuchs sprachlich spanische Dörfer für mich auffährt: Papa, kannst Du mir endlich die Kuchenfarben bringen?? Was, wie?! [Papa sucht.. Blog weiterlesen

  • 04.07.2018 [Kommentare: 0]

    Von der WM zur Ahnenforschung

    Nach dem Ausscheiden der deutschen und nun der spanischen Nationalmannschaft wird es natürlich für unsere deutsch-spanische Familie ganz schwierig mit dem Weiterfiebern. Doch die Jungs halten ganz gut mit. Zu EM 2016-Zeiten nach dem Aus der Deutschen.. Blog weiterlesen

  • 27.11.2017 [Kommentare: 0]

    Rosamunde Pilcher im spanischen Fernsehen

    Als ich einmal an einem Nachmittag am Wochenende wahllos durch das spanische Fernsehprogramm zappe, werde ich plötzlich stutzig: Sind das nicht deutsche Schauspieler da auf dem Bildschirm? Heißt das etwa, dass ich mir gute deutsche Filme im.. Blog weiterlesen

  • 16.10.2017 [Kommentare: 0]

    Pendeln im Fernzug

    Es ist 06:42 Uhr und der Fernzug AVANT setzt seine Fahrt in Richtung Madrid nach einem kurzen Aufenthalt in Ciudad Real fort. Er ist fast komplett ausgebucht, aber von Chaos bei der Sitzplatzsuche keine Spur. „Wie praktisch! Ich muss ja gar nicht um.. Blog weiterlesen