Der Tod eines schon zu Lebzeiten Heiligen

19.06.2009 - Stefanie Claudia Müller - scm communcation 

Ich glaube an Gott, aber eigentlich nicht an Heilige. Als ich jedoch die Chance hatte, den Spanier Vicente Ferrer vor sechs Jahren bei einem Vortrag in Madrid zu hören, später sein Buch zu lesen und ihn dann in Indien persönlich kennenzulernen, hatte ich erstmals das Gefühl, dass dieser hagere Mann mit den langen Händen, dem weißen Haar und dem vorstehenden Unterkiefer so etwas wie ein lebendiger Heiliger sein könnte, übermenschlich. Nicht nur, weil sein Entwicklungshilfe-Projekt so erfolgreich ist, sondern auch weil der in Barcelona geborene Ferrer immer beide Füße auf der Erde hatte und trotzdem Himmlisches vollbrachte.

Am Freitag ist er gestorben, dieser mit einer britischen Journalistin verheiratete rege Geist, der schon lange im indischen Anantapur und nicht mehr in Spanien zuhause war. 100 000 Menschen kamen, um von ihm Abschied zu nehmen. Ferrers Wunsch war es, in Indien und nicht in Barcelona beerdigt zu werden. 

Sein durchdringender klarer und unbeirrter Blick, seine menschliche Wärme, sein bedachter Gang, seine Sprache gaben ihm etwas Mystisches, er schien nicht von dieser Welt. Jeder Satz von ihm war wohl überlegt. Oberflächliche Konversation war ihm ein Gräuel. Nicht nur darin unterschied er sich von vielen Landsleuten. Er war auch ein bescheidener Leisetreter, er flüsterte fast. Er wollte, dass man ihm zuhörte. Man sollte verstehen, dass sein völlig religionsfreies Projekt eine Spende wert ist.

Und trotz aller Mystik, die ihm umgab, die aus seinen vielen Büchern spricht: Alles war klar durchdacht, keine Spendenskandale, keine Korruption - Ferrer war ein Unternehmer. Er selbst wohnte in sehr einfachen Verhältnissen vor Ort, war bis zu seiner Erkrankung in das tägliche Geschäft integriert, gab die Kontrolle nicht aus der Hand. Nach Barcelona reiste er nur noch, um für Spenden zu werben.

El Padre, der Vater, wie sie ihn nannten, war für viele Inder aus Anantapur die einzige Hoffnung in ihrem Leben, weil er ihnen Arbeit und damit zu essen gab. Er ließ sie Briefe übersetzen, er ließ sie die Gäste zu den Patenkindern fahren, er ließ sie und nicht Spanier Heime und Krankenhäuser der Vicente Ferrer-Stiftung führen, er ließ sie Brunnen bauen und Schulen leiten. Er spornte sie damit an, zu lernen, vor allem die an den Rand gedrängten indischen Frauen.

Spanische Ärzte und Lehrer kommen nur, um seiner Stiftung unter die Arme zu greifen, um zuhause für seine Arbeit und damit für Spendengelder zu werben. Sie sind die Brücke zu seinem alten Leben und einer Kultur, die ihn geprägt hat. Sie erlaubten ihm auch, seine Muttersprache zu pflegen. Der Austausch von 150 000 indischen Kinder mit Familien in seiner Heimat hat Spanisch zu einer wichtigen Sprache in Anantapur gemacht. Viele Hunderte Pateneltern kommen jedes Jahr, um ihre Kinder vor Ort zu besuchen, ein Kulturaustausch der besonderen Art. Die Kinder zeigen stolz ihr Dorf und die Spanier bringen typische Sachen aus ihrer Heimat mit.

Obwohl zunächst Jesuiten-Pfarrer hatte Ferrer in Indien nie einen Missionierungsauftrag: „Wichtiger als die Religon ist, dass die Leute etwas zu essen haben und dann können sie selber entscheiden, an was sie glauben wollen. Wir müssen zuerst diesen leidlichen Kreislauf des Hungers durchbrechen,“ sagt er zu Besuchern. Ferrer wusste, je mehr Mäuler eine Familie stopfen muss, desto schwieriger ist der Überlebenskampf. Er wusste auch schnell, dass die Frauen mit der Mutterschaft unterdrückt werden. Deswegen hat er ein Zentrum errichten lassen, wo sie sich nach der Geburt sterilisieren lassen können. Damit hat er Hunderttausenden von jungen Inderinnen wieder das Gefühl gegeben, dass sie selbst über ihr Schicksal entscheiden können.

Der 89-Jährige war ein Pragmatiker, der sich über den Überfluss in seiner Heimat Spanien ärgerte und die Geistlichkeit seiner Wahlheimat schätzte. Wenn Kinder von spanischen Besuchern mit Gameboys und Pistolen durch seine Gäste-Anlage liefen, dann nervte ihn das. Aber immer wieder passierte das Wunder, was Ferrer freute: Nach einigen Tagen spielten diese Kinder nur noch mit einem Luftballon oder mit anderen einheimischen Kindern oder Cricket oder verstecken. Fernseher und Computer waren nicht mehr notwendig, um den Tag zu genießen. Auch an das Essen in der Anlage der Stiftung konnten sich die Kinder gewöhnen. Es gibt kein Fleisch, fast jeden Tag Linsen und Reis, Ferrer ist jeden Tag in derselben Küche. Zusammen mit Indern, die mit den Händen essen, sitzen die Kinder auf Holzbänken und hören plötzlich auf darüber zu meckern, was sie auf dem Teller haben. 

Durch Brunnen- und Krankenhausbau, Mikro-Kredite für Unternehmerinnen und durch eine effiziente Öffentlichkeitsarbeit schaffte Ferer es, Hunderttausenden von Menschen ohne Perspektive eine Zukunft, Arbeit und eine Ausbildung zu geben. Ferrer war auch deswegen bereits zu Lebenszeiten für viele Hindus ein Heiliger. Er drehte wegen dieser Verehrung nicht ab, war bescheiden, arbeitete auch im hohen Alter immer noch mit. Lässt sich von Einheimischen beraten. 

Aber helfen ist nicht einfach und Mitleid und Selbstfindungsversuche schätzte der später aus dem Jesuiten-Orden wegen der Heirat ausgestiegene Ferrer überhaupt nicht. Als ein Landsmann mit seiner Freundin nach Indien kommt, in seiner Anlage wohnt und ihm schließlich ein neues waghalsiges, wenn auch gut gemeintes Projekt vorschlägt, da sagt er nur nüchtern: „Sie können froh sein, dass Sie ihre Freundin mitgenommen haben, sie ist Ihr Schutzengel.“ Als eine Spanierin, ebenfalls bei ihm als Helferin angemeldet, sich aufregt, dass behinderte indische Kinder mit erhöhter Temperatur für die spendenfreudigen Gäste tanzen, da sagt er der gelernten Krankenschwester nur: „Diese Kinder freuen sich seit Wochen auf diesen Auftritt, sie sind zwei Stunden mit dem Bus gefahren, wenn sie tanzen können und wollen, dann tanzen sie.“ In einem Land, wo täglich Hunderte von Kindern an Hunger, schmutzigem Wasser und Verwahrlosung sterben, schien ihm leicht erhöhte Temperatur ein banales Problem: "Diese Kinder sind normalerweise am Rand der Gesellschaft, die Familien schämen sich für sie. Sie werden nicht ausgebildet. Für diese Kinder hat so eine Tanzvorstellung einen anderen Stellenwert."

Vicente Ferrer wurde für seine humanitäre Arbeit  mehrfach ausgezeichnet, darunter 1998 mit dem renommierten Prinz-von-Asturien-Preis. Der 1920 geborene Ferrer gab 1944 sein Jurastudium auf und trat in den Jesuitenorden ein, um, wie er es sagt, seiner Berufung, den Ärmsten der Armen zu dienen, nachkommen zu können. 

Spanien kann stolz sein auf diesen Mann, der bis zum Ende gezeigt hat, dass für Helfen nicht nur ein gutes Herz notwendig ist, sondern auch ein klarer Verstand. Zusammen mit seiner Frau Ana baute er ein wohltätiges Unternehmen auf, das funktioniert, das schwarze Zahlen schreibt, ein Familienunternehmen, das jetzt vor allem von seinem Sohn weitergeführt wird. 

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