TIPP: Der Zusammenhang der Dinge

27.05.2011 - Tanja Nause 

Nicht 1968 ist das Thema dieser Ausstellung im Centre de la Imatge Virreina an den Barceloner Ramblas, und auch nicht das Jahr 1989. Im Zentrum steht überhaupt kein symbolträchtiges, eher ein willkürlich herausgegriffenes Datum: das Jahr 1979.

1979 gewinnt der Film Apocalypse Now auf den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme. Margaret Thatcher wird britische Premierministerin. Die Truppen der damaligen Sowjetunion marschieren in Afghanistan ein. Revolution in Nicaragua. „Islamische Revolution“ im Iran. In Spanien ist die transición in vollem Gang: erste allgemeine Wahlen im Land nach Francos Tod. In Katalonien wird die „Àrea de Serveis Socials“ gegründet, an der erste soziologische und urbanistische Studien durchgeführt werden. Bei Seat in Barcelona streiken die Arbeiter. Die Coordinación de Presos Españoles en Lucha schreibt an König Juan Carlos I. einen Protestbrief, in dem die Zustände in den spanischen Gefängnissen angeprangert werden.

Die Ausstellung „1979. Un monumento a instantes radicales“ geht einen ungewöhnlichen Schritt. Der Rundgang beginnt in zwei Räumen, die dem deutschen Schriftsteller Peter Weiss und seinem Romanprojekt „Die Ästhetik des Widerstands“ gewidmet sind.

Ausgestellt werden Dokumente aus der Akademie der Künste in Berlin, die Notizbücher von Peter Weiss beispielsweise, die er während der Arbeit an der „Ästhetik des Widerstands“ führte, aber auch Briefe, Fotos, gesammelte Zeitungen. Dokumente eines zehnjährigen Projekts. Videos laufen, und es ist anrührend und schön, Peter Weiss hier in Barcelona wiederzubegegnen.

Weiss‘ tiefgründige Beschäftigung mit dem Scheitern der europäischen Linken, die in den dreißiger Jahres des letzten Jahrhunderts den Faschismus nicht zu verhindern wussten, bildet den Ausgangspunkt für die beiden thematische Hauptstränge dieser Ausstellung: der Ende der siebziger Jahre beginnende Untergang der industriellen Produktion und der Industriearbeit, der damit einhergehende städtische Verfall – einerseits. Die Vergänglichkeit der am Beginn aufgezählten Ereignisse, die Veränderung der Erinnerung daran – andererseits. Die Ausstellung fragt nach dem Zusammenhang der Dinge.

Sehr beeindruckend sind die ausgestellten Fotos von Pep Cunties, Eduardo Subias und Jesús Atienza. Sie haben 1979 öffentliche Einrichtungen in Katalonien fotografiert und damit Bilder geschaffen, die stumm, aber unnachgiebig auf die unhaltbaren Zustände in spanischen Einrichtungen jener Zeit – ein Erbe der Franco-Diktatur – hinweisen: im alten Schlachthaus von Barcelona, in einem Altenpflegeheim in Bonanova, in der Psychiatrie.

Die Ausstellung fragt aber nicht nur nach dem Zusammenhang der historischen Ereignisse des Jahres 1979, nach dem Zusammenhang der einzelnen Protagonisten, Länder, Theorien, nach dem Zusammenhang von radikalem Wechsel und langsamem Wandel. Sie fragt auch nach dem Zusammenhang von Dokument und Fiktion. Wieder ist Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ der beste Zeitzeuge: ein tausendseitiges Romanprojekt, das nur aus Dokumenten besteht, eine durchweg fiktive Handlung, die bevölkert ist von historisch verbürgten Personen. Alles an der „Ästhetik des Widerstands“ ist erfunden, und doch ist alles authentisch. Wie in dieser Ausstellung.

Beim Betrachten der Vitrinen, beim Ansehen der Dokumente und Fotos, der Videos und Kunstwerke wird dem Betrachter klar, was das für ein fragiles Konstrukt ist: die Erinnerung. Ein individueller Prozess, der ständigen Veränderungen, Deutungen und Interpretationen unterworfen ist. Sobald wir über unsere Vergangenheit sprechen, konstruieren und rekonstruieren wir sie neu, anders.

Am Ende zeigt uns die Ausstellung nichts anderes, als dass in diesem Prozess der Deutung und Rekonstruktion im Fall „1979“ keine der politischen Bewegungen die Oberhand behalten hat. Niemand konnte sich diese Jahreszahl ganz zu eigen machen. Großartig ist, dass auch die Organisatoren dieser Ausstellung es nicht versuchen. Die Deutungshoheit über die Vergangenheit, die Deutungshoheit über 1979 liegt bei uns, den Betrachtern.

Noch bis zum 12. Juni 2011.

Wo: Virreina Centre de la Imatge
La Rambla 99

Dienstag bis Sonntag, Feiertage: 12 bis 20 Uhr

Eintritt frei

Webseite: www.virreina.bcn.cat

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