SERIE: Fragen und Antworten zum Thema Sozialversicherung

24.08.2009 - Rainer Fuchs / Deutsche Botschaft 

Elf Millionen deutsche Touristen besuchen Spanien in jedem Jahr, und über 600.000 deutsche „Altersresidenten“ wohnen mehr oder weniger ständig an den Küsten der iberischen Halbinsel. Aber trotz des europäischen Gesundheitspasses EHIC gehen nur wenige Deutsche zum spanischen Arzt. Darum möchte ich, bevor wir beim nächsten Mal zu den typischen Fragestellungen von deutschen Residenten kommen, zunächst ein wenig Informationen über das spanische Gesundheitssystem geben.

Staatlicher Gesundheitsdienst - Bürgerversicherung mit Verfassungsrang

Der staatliche Gesundheitsdienst in Spanien genießt einen hervorragenden Ruf, was die fachliche Qualität der ärztlichen Behandlung angeht. So sind denn auch über zwei Drittel (67Prozent) der Spanier mit ihren Gesundheitssystem rundum zufrieden. Die im EU-Vergleich weit überdurchschnittliche Lebenserwartung, die im letzten Jahrzehnt um 2 Jahre auf 77 Jahre für Männer und 84 Jahre für Frauen gestiegen ist, bestätigt diese Einschätzung. Auch die Kindersterblichkeit ist in Spanien sehr gering.

Für die Spanier führt der Weg zum Facharzt oder in die Klinik über eines der 2.702 Gesundheitszentren. Der Weg zu ihnen soll nicht mehr als 15 Minuten dauern. Dort wird entschieden, ob und welche weitere Behandlung erforderlich ist. Damit haben die Spanier gewissermaßen ein Hausarzt-System geschaffen.

Das Recht aller Bürger auf Gesundheitsschutz ist in Art. 43 der Verfassung verankert. Damit ist nach spanischem Verständnis die Bürgerversicherung mit Verfassungsrang ausgestattet. Alle Bürger genießen, auch wenn sie der staatlichen Versicherung nicht als Arbeitnehmer oder Selbständige angehören, das Recht auf kostenfreie Behandlung, sofern sie bedürftig sind. Diese Voraussetzung erfüllt, wer z.Zt. weniger als rd. 8.736,- Euro jährlich verdient. Gleiches Recht haben bei entsprechender Bedürftigkeit alle Ausländer, die sich in Spanien aufhalten – und zwar unabhängig davon, ob sie in ihrem Heimatland versichert sind. Wer in Spanien lebt, muss sich allerdings bei seiner Gemeinde und bei der Ausländerpolizei angemeldet haben. Selbstverständlich ist die Gewährleistung der Notfallbehandlung für alle.

Zahnbehandlung ausgeschlossen

Das Leistungsangebot des staatlichen Gesundheitsdienstes ist umfassend, aber für deutsche Begriffe etwas lückenhaft. Ein großer Kostenfaktor, die Zahnbehandlung, ist nicht abgedeckt – die Folgen kann man im Straßenbild jederzeit besichtigen. Nur die Extraktion von Zähnen wird übernommen. Allerdings hat der neue Gesundheitsminister Bernat Soria im September 2007 angekündigt, bis 2012 stufenweise die kostenlose Zahnbehandlung landesweit für Kinder von 8 bis 15 Jahren einzuführen. Der Plan soll von der Regierung und den 17 autonomen Regionen kofinanziert werden, so dass noch einige Verzögerungen in der Umsetzung zu erwarten sind. Eine Reihe von autonomen Regionen geht aber mit gutem Beispiel voran. Die Hilfsmittel gehören gleichfalls nicht zum Leistungsspektrum. Die Spanier sind es seit jeher gewöhnt, 40 Prozent der Kosten für Arzneimittel selbst zu tragen. Dafür sind aber vor allem teure Medikamente für einen Bruchteil des deutschen Preises in den Apotheken zu haben. Chronisch Kranke müssen nur 10Prozent zuzahlen, Rentner gar nichts. Verschreibungspflicht von Medikamenten ist übrigens in der Praxis eher selten (einmal abgesehen von Opiaten, Sulfonamiden und speziellen Medikamenten).

Notaufnahme statt Warteliste
Kernproblem des Gesundheitsdienstes sind lange Wartelisten für Operationen in den rd. 800 Krankenhäusern des Landes. Ziel ist eine maximale Wartezeit von 45 Tagen für Operationen, sie beträgt jedoch 40 bis 80 Tage, in jedem zehnten Fall sogar sechs Monate. Fast 400.000 Menschen stehen auf den Wartelisten. Nicht selten stehen Doppelreihen mit belegten Betten in den Fluren und die Patienten müssen schon einmal tagelang auf ihren Eingriff oder ein freies Zimmer warten. Diese Probleme kennen wir in Deutschland nicht. Wir geben aber auch deutlich mehr für unser Gesundheitswesen aus: 11Prozent des BIP sind es in Deutschland gegenüber knapp 8 Prozent des BIP in Spanien. Auf 100.000 Einwohner kommen mit 386 Betten weniger, als in jedem anderen EU-Staat. Ganz besonders im Sommer können die Spitäler in den Urlaubsgebieten die große Nachfrage oft nicht decken, zumal auch viele Ärzte im traditionellen Urlaubsmonat August in Urlaub sind. Ein weiteres Problem ist akuter Ärztemangel. Die Stimmung unter den Krankenhausärzten ist oft gereizt. Zwar gibt es mindestens 107.000 Ärzte im staatlichen Gesundheitsdienst des Landes, es fehlen aber 3.000 Fachärzte, vor allem Allgemeinärzte (1.700), Anästhesisten (200), Kinderärzte (400) und Radiologen (150). Proteste der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes gibt es auch gegen Pläne einiger Regionen, die Krankenhäuser (nicht: die Behandlung) in private Trägerschaft zu geben, was wir aus Deutschland als selbstverständlich nehmen. Insgesamt sind 203.091 Ärzte in Spanien zugelassen, davon 87.054 Ärztinnen. Die Spanier haben aber ein probates Mittel, um schneller an die Reihe zu kommen: die Notaufnahme. Sie ist fast zur Regelaufnahme im staatlichen Krankenhaus und damit zum Nadelöhr geworden.

Private Zusatzversicherungen sind Standard

Wartelisten, Zuzahlungen und der in entlegenen Landesteilen manchmal schlechte Zustand der Einrichtungen haben dazu geführt, dass viele Spanier über eine private Zusatzversicherung verfügen. Die Versicherung übernimmt Zuzahlungen und verfügt in der Regel über eine Reihe privater Vertragsärzte und Vertragskliniken, die auf ihre Rechnung Behandlungen übernehmen. Diese Versicherungen sind (noch) sehr günstig zu haben. (Aber Vorsicht: wer keine gesetzliche Versicherung in Deutschland hat, kann sich evtl. mit einer solchen privaten Versicherung später einmal die Rückkehr in die gesetzliche Versicherung verbauen.) Dennoch werden in Spanien etwa drei Viertel der Gesundheitsausgaben vom staatlichen Gesundheitsdienst erbracht.

Kein Finanzierungsproblem – kein Reformbedarf?
Die spanische Krankenversicherung wird aus Steuermitteln finanziert. Damit ist das Gesundheitswesen das wichtigste Umverteilungsinstrument im Land, denn Steuern werden nach der Leistungsfähigkeit gezahlt. Die für die Umsetzung der allgemeinen staatlichen Gesundheitsgesetze zuständigen 17 autonomen Regionen („Länder“) zahlen die Kosten aus ihrem Haushalt sowie aus Zuweisungen des Zentralstaates und der staatlichen Sozialversicherung. Fragen der Umsetzung der Gesundheitsgesetze werden in einem „Interterritorialen Gesundheitsrat“ (CIS) besprochen. Den Löwenanteil der Kosten tragen mit über 90 die Regionen.

In der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Regionen, aber auch in unterschiedlichem politischem Handlungswillen, liegen die Hauptursachen für starke regionale Schwankungen in der Qualität der Versorgung und den Leistungen des Gesundheitsdienstes. Aber auch das Leistungsspektrum kann sich von Region zu Region ganz erheblich unterscheiden. Nach einer Untersuchung des Dachverbandes der Vereinigungen für öffentliche Gesundheit (FADSP) vom September 2007 sind die Kanaren, Murcia, Valencia und Madrid Schlusslichter, an der Spitze liegen Navarra, Kalabrien, Asturien und das Baskenland. In der Bewertung sind die besten Regionen doppelt so gut wie die schlechtesten.

Auch in Spanien steigen die Kosten im Gesundheitswesen steil an. Noch stehen dem die Überschüsse in den Sozialkassen von 57 Mrd. Euro und hohe Steuereinnahmen der Regionen aus den Zeiten des Wirtschaftsbooms gegenüber. Wirtschaft und Beschäftigung sind mit der Finanzkrise ins Stocken geraten, und die Regionen werden künftig Schwierigkeiten haben, die Kosten für eine moderne Gesundheitsversorgung aufzubringen. Eine Gesundheitsreform, die bisher in Spanien kein Thema ist, könnte schon bald auf der Tagesordnung stehen und vor allem nach der Effizienz des vergleichsweise teuren Systems fragen.

Geringere Ansprüche an den Staat
Allerdings stellen die Spanien an den Staat keine so hohen Ansprüche, wie wir das aus Deutschland kennen. Solidarität in der Familie ist das soziale Netz, etwa vorhandene staatliche Leistungen werden dankbar angenommen. Soziale Themen beherrschen daher weniger die Debatte in einem Land, dessen Menschen erst angefangen haben, die Segnungen ihrer jungen Industrienation zu genießen. Längerfristig und ungeachtet der hoffentlich nur kurzfristigen wirtschaftlichen Krise wird es schon bald auch darauf ankommen, die Qualität der Versorgung und damit die Gesundheitsausgaben ganz nordeuropäischem Standard anzupassen.

Zukunftsproblem Alterung
Die Demografie (Geburtenrückgang und Alterung) wird Spanien ab 2020 besonders hart treffen: das Land ist am drittstärksten von allen Industrienationen von der Alterung der Gesellschaft betroffen. Bis 2050 werden die Kosten des Gesundheitswesens um 2,3 Prozent des BIP steigen. Aus historischen Gründen (Geburtenboom nach Franco-Diktatur) haben die Spanier aber etwa zehn Jahre mehr Zeit zur Verfügung, um sich darauf einzustellen. Unter anderem wird bereits durch ein fortschrittliches neues Pflegegesetz, das 2007 in Kraft getreten ist, gegengesteuert. Bisher setzen die Spanier noch auf Zuwanderung als Mittel gegen die demografische Entwicklung. Das wird sich vermutlich schon bald ändern, weil mit der Finanzkrise die Arbeit knapp geworden ist.

Ein Problem wird auch die Alterung der Ärzteschaft bereiten: zwischen 2016 und 2026 werden rd. 54.000 - ein gutes Viertel – in Ruhestand gehen, ohne dass genügend Nachwuchs in Sicht ist. Die Ausbildung dauert etwa 10 Jahre und ein enger numerus clausus an den 29 Fakultäten für Medizin (8,5 von 10 Punkten) schränkt die Berufswahl ein. Wegen der schlechten Arbeitsbedingungen streben überdies rd. 25 Prozent der Absolventen in das Ausland.

Im Urlaub ausprobieren
Deutsche Touristen sollten den Gesundheitsdienst ruhig einmal ausprobieren – sie werden wahrscheinlich positiv überrascht sein (Versicherungskarte mit EHIC-Aufdruck nicht vergessen!). Außerdem sparen sie die Abrechnungsformalitäten und evtl. böse Überraschungen bei dem Versuch, von der deutschen Kasse alle Kosten eines deutschen Arztes erstattet zu erhalten. Allerdings ist die sehr preiswerte private Auslands-Reise-Krankenversicherung doch eine Empfehlung, schon um im Ernstfall den Transport nach Hause zu sichern.

Altersresidenten
Altersresidenten sei geraten, sich möglichst bald nach ihrer Ankunft in Spanien zu integrieren und vor allem die Sprache zu erlernen. Denn nicht alle können ihren ursprünglich vielleicht gefassten Vorsatz, bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit nach Deutschland zurückzukehren, später auch in die Tat umsetzen. Gerade sie sollten die immer besseren spanischen Gesundheitsangebote, für die ihre deutsche Krankenkasse ohnedies eine pauschale Abgeltung zahlen muss, auch in Anspruch zu nehmen. Die Möglichkeit, sich im Ernstfall auch in Deutschland behandeln zu lassen, wird ihnen dadurch ja nicht genommen.

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