SCHREIBWETTBEWERB: Lichtschatten

08.09.2009 - Monja Otto 

Samantha versuchte aus dem Wirrwarr spanischer und deutscher Wörter den Sinn des Gesprächs zu erfassen. Während die Kinder spanischer Eltern sich fließend ihrer Muttersprache bedienten, plapperten die Deutschen eifrig auf Deutsch. Dazwischen gab es einen Haufen „Mischlinge“, die sich mit einem fröhlichen Sprachencocktail beteiligten. Es war eine Alltagssituation einer deutschen Schule in Spanien.

Neulinge verstanden erst einmal gar nichts und so versuchte auch Samantha sich irgendwie Gehör zu verschaffen. Mehrere fingen an zu lachen. Es wurde viel gelacht, auch wenn die Hälfte nicht verstand, was gerade so lustig war, doch schien die Schule die Voraussetzung mitzubringen, dass man schnell lernte zu imitieren. Samantha fiel das gar nicht so schwer, musste man schließlich nur lachen, wenn andere lachten bzw. ernst schauen, wenn die Gesichter sich verfinsterten.

Die Wege der Klassenkameraden trennten sich nach der letzten Stunde. Samantha und ihre Freundin Mandy strebten in Richtung Metro. Ein meist zuverlässiges Verkehrsmittel und für die Vermeidung von stundenlangem Im-Stau-Stehen geradezu unersetzbar. Außerdem fürchteten viele Deutsche die Rücksichtslosigkeit mit der manche Spanier Auto fuhren... Die Metro war, wie zu erwarten, vollkommen überfüllt. Irgendwie quetschten Mandy und Samantha sich dann doch noch rein. „Schau mal, der Fette da nimmt zwei Plätze ein. Ich finde so etwas unverschämt“, grummelte Mandy und zog schnell ihren Fuß weg, bevor Samantha, die rückwärts ging, weil es in der Menschenmenge kein „Vorwärts“ mehr gab, drauftreten konnte.

„Finde ich auch“, stimmte Samantha zu, ihre Tasche an sich gepresst, da in der Menge nur zu oft Gegenstände wie Handys und Geldbeutel unfreiwillig den Besitzer wechselten. „Boah, da will sich eine Oma hinsetzen und dieser Fettsack ignoriert sie!“, knurrte Mandy, die aufgrund einer vermasselten Mathematikklassenarbeit schlecht gelaunt war. Wenn man mitten zwischen Spaniern sich unbeschwert auf Deutsch unterhalten konnte, ohne dass sie einen verstanden, wurde man nur allzu schnell unvorsichtig. So wurde über den dicken Herren gelästert, doch bei der nächsten Haltestelle stand dieser auf, ging an ihnen vorbei und grüßte die Mädchen mit einem spanischen Akzent, aber eindeutig auf Deutsch: „Jetzt ist der Platz frei.“ „Wie peinlich!“, entfuhr es Mandy.

Auch Samantha wünschte sich der Erdboden, nein, der Metroboden, würde sie verschlucken. Da der Boden jedoch keine Anstalten machte, sich zu öffnen, die Uhr stattdessen aber anzeigte, dass Samantha nur noch wenige Minuten blieben, um den nächsten Bus zu erwischen, rief sie Mandy schnell ein paar Abschiedsworte zu und düste los. Samantha hasste das Bussystem. Entweder fuhr der Bus zu früh los oder zu spät. Dass er sich mal genau zur richtigen, der angegebenen Zeit, in Bewegung setzen könnte, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge, stolperte dabei fast über die Waren eines illegalen Einwanderers, von denen es sehr viele gab, und erntete dafür das Gelächter der schadenfrohen Meute. Irgendwie kam sie dann doch noch schnaufend zur Bushaltestelle, nur um das Verkehrsmittel genau in diesem Moment losfahren zu sehen. Obwohl sie winkte, hielt der Bus nicht mehr an. Frei nach Bertold Brechts Regel in Bezug auf Revolutionen: Wenn das Volk erst einmal läuft, hält niemand es mehr auf. Den Bus hielt auch nichts mehr auf…

Hungrig kam sie eine Stunde später Zuhause an, wo sie von ihrer Mutter strahlend begrüßt wurde. „Ich habe heute ein typisch spanisches Essen gekocht!“, rief sie stolz. Gespannt, aber auch ein wenig skeptisch, betrat Samantha die Küche. „WAS IST DAS?“, entfuhr es ihr. Auf ihrem Teller, verteilt auf einer Reisschicht, saßen mehrere kleine Krabben. Die toten Tierchen, die aber noch genauso aussahen wie im lebendigen Zustand, glotzen Samantha aus ihren großen, leeren Augen an. Der Anblick hätte, Samanthas Meinung nach, auch den hartgesottensten Menschenvertreter Vegetarismus in Betracht ziehen lassen.

Nach dem Essen zappte sie kurz durchs Fernsehen. Auf einem Sender wurde eine ältere Frau interviewt, was sie denn so von „Deutschlandreisen“ über die Deutschen gelernt habe. Gespannt fragte Samantha sich, ob es jetzt eine Erklärung über kulturelle Unterschiede, von denen sie täglich welche bemerkte, zu hören geben würde, doch stattdessen meinte die Frau, in die Kamera grinsend: „Die Deutschen ziehen Socken in Sandalen an.“ Samantha schaltete den Fernseher stöhnend aus. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie viele Spanier sich in diesem Moment königlich über Deutsche mit Sandalen und Socken amüsierten.

Wieso interviewen die auch immer die größten Trottel?, fragte Samantha sich, während sie sich zum Einkaufszentrum begab. Die meisten Sachen waren schnell gefunden, nur wollte sie sich einen neuen Kugelschreiber besorgen, von denen sie jedoch keinen entdeckte. Da sie nicht fündig wurde, begab sie sich zur Verkäuferin. Kurz überlegte sie, was Kugelschreiber nochmal auf Spanisch hieß. Dann fragte sie lächelnd nach einem „Culo“. Zwar war sie sich nicht vollkommen sicher, dass es das richtige Wort war, doch hörten „Culo“ und „Kuli“ sich doch sehr familiär an. Die Verkäuferin, ein junger Mann und eine weitere Frau in der Nähe fingen lauthals an zu lachen. Samantha sah sie wie ein Auto an.

Sie hasste es, wenn sie nicht verstand, wieso andere Leute sich amüsierten. Vor allem nicht, wenn sie so eindeutig über sie lachten! Die Verkäuferin wischte sich die Lachtränen aus den Augen und versuchte Samantha die Situation zu erklären. Nach einigem hin und her deutete die Frau auf ihr Hinterteil und sagte: „Culo!“ Die Tomaten in Samanthas Einkaufskorb wirkten geradezu blass im Gegensatz zu ihrer Gesichtsfarbe. Samanthas Bruder, der kurz darauf mit ihr und den Hunden einen Spaziergang machte, amüsierte sich königlich, dass seine große Schwester einen „Arsch!“ bestellt hatte.

Ein Auto düste an ihnen vorbei. Der junge Fahrer verschluckte sich fast an seiner Zunge, als er erst, typisch südländisch, pfeifen wollte, dann aber das Brüderchen entdeckte. Das Pfeifen vom Auto aus hatte Samantha anfangs verunsichert. Bei den Deutschen gab es so etwas viel seltener… Hier starrten sie einen so unverschämt aus dem Fenster an, dass man fürchtete, sie würden dabei das Autofahren vergessen und in den nächsten Kreisel krachen. Sobald die jungen Frauen aber von einem Vertreter des anderen Geschlechts begleitet wurden, selbst wenn dieser nur 10 Jahre alt war, hielten die Machos meist die Klappe.

„Ich gehe ein“, kommentierte Samantha das Wetter. Als Liebhaberin des deutschen Dauerregens brachte der Temperaturunterschied sie beinahe um den Verstand. Außerdem gab es noch andere Nachteile: Im Winter war man um einiges blasser, als die meisten Spanier mit ihrer natürlichen Bräune und im Sommer wurde man, wenn man nicht aufpasste, schnell rot wie ein Hummer.„Tim meint, dass es im Hochsommer mindestens noch zehn Grad wärmer als jetzt wird“, erklärte ihr Bruder. Das hatte sie natürlich nicht hören wollen…

In einem kleinen Park fanden sie einen Springbrunnen. Die Hunde hüpften sofort hinein und begannen freudig zu planschen.Sie hatten noch nicht lange gespielt, als ein mürrisch aussehender Mann auftauchte. Dieser sah die Hunde und fand sofort einen Grund um sich aufzuregen. Die Einstellung der meisten Spanier, Tieren gegenüber, war, Samanthas Meinung nach, gelinde gesagt, „veraltet“. Nicht umsonst war sie, wie viele andere Deutsche auch, Dauergast beim örtlichen Tierheim. Viele Hunde, vor allem Mischlinge und ausrangierte Jagdhunde, werden in diesem Land noch immer einfach „entsorgt“, was soviel wie aussetzen oder umbringen bedeutet.

Samanthas Familie hatte zwei dieser ungewollten Tiere aufgenommen und sie wollten sie nicht mehr missen. Dank dem Rüden waren Staubsauger und Mülleimer quasi überflüssig und die Hündin ersetzte selbstlos mit ihrem lautstarken und hohen Belltönen, auf die so manch ein Opernsänger sicherlich neidisch wäre, die Alarmanlage… „Wieso dürfen die Hunde nicht ins Wasser?“, fragte Samantha mit brüchigem Spanisch. Der Mann horchte sofort auf, bemerkte den Akzent und wollte wissen, woher sie kamen. Als er das Wörtchen „Deutschland“ vernahm, verdunkelten sich seine Gesichtszüge und er machte ihnen unverschämt klar, dass sie ihre Hunde gefälligst „in Deutschland baden sollten“.

Samanthas kleiner Bruder, der weitaus weniger Hemmungen empfand als sie, wollte sofort wissen, wieso es an diesem Platz verboten sei mit Hunden spazieren zu gehen und woher er das wisse. Eine Sache hatte Samantha früh gelernt: Streite nie mit Spaniern. Deutsche können gut streiten und haben sicherlich auch einen Haufen Schimpfwörter parat, doch gehen sie mit Fremden eindeutig sensibler um. So oft wie Samantha mittlerweile schon „Hurentochter“ genannt worden war, ohne ersichtlichen Grund, überraschte es sie gar nicht so sehr, als der Mann ihren Bruder als Sohn einer solchen bezeichnete. „Ich rufe die Polizei! Holt doch eure Nazis“, schnappte Samantha auf.

Jetzt wurde es ihr zuviel. Die Vorurteile anderer Länder gegenüber Deutschen konnten einen echt aufregen. Und dass ein Vierzigjähriger so mit einem kleinen Jungen umsprang, brachte das Fass zum überlaufen. Kurzerhand schleuderte Samantha dem Fremden alle Schimpfwörter entgegen, die es auf der guten, alten deutschen Sprache gab; froh, dass er sie nicht verstand, packte den Bruder am Arm, rief die Hunde zu sich und marschierte davon.

Zuhause angekommen zog sie sich, noch immer gereizt, um, da sie zu einer Silvesterparty eingeladen worden war. Sie fragte sich ernsthaft, wie man innerhalb von zwölf Sekunden zwölf Weintrauben essen konnte, ohne sich hoffnungslos daran zu verschlucken und zu ersticken. Andere Länder, andere Traditionen, dachte sie sarkastisch. Um 22.00 Uhr sollte sie abgeholt werden. Um 22.30 Uhr saß sie noch immer im Wohnzimmer und wartete. Aber an gewisse Dinge gewöhnt man sich einfach irgendwann.

Spanier kamen NIE pünktlich…

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