LITERATURTIPP: Zwei Romane aus den Pyrenäen auf Deutsch

20.05.2008 - Anuschka Seifert 

Maria Barbal: Wie ein Stein im Geröll

„Man sah gleich, dass wir bei uns daheim viele waren. Und eine schien man entbehren zu können.“ Die dreizehnjährige Conxa wird von ihren Eltern, Bauern aus einem kleinen Pyrenäendorf, zur kinderlosen Tante geschickt, in ein anderes Dorf. Wohlgemerkt zur Tante - nicht zu ihrer Tante - bei der sie arbeitet und lebt. Später lernt Conxa den Wanderarbeiter Jaume kennen. Trotz anfänglicher Widerstände heiratet sie ihn.

Schnörkellos aber poetisch führt Maria Barbal (http://www.escriptors.cat) den Leser in „Wie ein Stein im Geröll“ in die archaische Welt einsamer Pyrenäendörfer, in denen das Leben von ewig gültigen Traditionen geprägt ist, bis der spanische Bürgerkrieg brutal auch in diese abgelegene Welt vordringt. Jaume begrüßt die Republik, hängt das Bild des Königs im Schulraum ab und will die sozialen und die Besitzverhältnisse nach neuen Wertmaßstäben an die Bedürfnisse der Bedürftigen anpassen. Conxa schweigt und bleibt abweisend. Dann wird Jaume von Faschisten verschleppt.

Sie wusste, dass er tot war und dass sie ihn niemals mehr bei sich haben würde, „denn der Krieg, das ist die Bosheit schlechthin. Wie sie über den Boden kriecht und ihre Schlangenbrut zurücklässt, ihre Saat aus Feuer und Messern mit offenen Klingen. Und meine Kinder und ich, wir waren barfuß. Noch nicht einmal Trauerkleidung trug ich, denn mein Toter war nicht wie die anderen. Er war ein Ermordeter, den man sofort vergessen muss. Und vor seinem Namen müssen Mund, Augen und Ohren mit dickflüssigem Zement verschlossen werden.“

Conxa wird den Verlust ihrer großen Liebe nie überwinden, zieht jedoch mit Ernst und Würde ihre Kinder groß. Die Anfeindungen der Franco-Anhänger erträgt sie stoisch und bewirtschaftet ihren kleinen Hof. Klaglos erträgt Conxa auch ihren letzten Verlust. Ebenso wie Tausende von anderen Menschen aus den Pyrenäen verlässt Conxa in den 1980er Jahren ihr Dorf, um ihrem Sohn in die Stadt Barcelona zu folgen. 

„Barcelona, das ist ein kleines Brot, das jeden Tag aufgegessen wird, und das ist Milch aus einer Flasche, ganz weiß, ohne Rahm und ganz dünn im Geschmack. Barcelona, das ist Lärm ohne Worte und ein klebriges Schweigen, erfüllt mit ganz bestimmten Erinnerungen. Barcelona, das ist für mich etwas sehr Schönes. Die letzte Stufe vor dem Friedhof.“ 

Dieser kleine, schlichte Roman von Maria Barbal war das erste katalanische Werk, dass Mitte der 1980er Jahre endlich mit dem Schweigen über den Spanischen Bürgerkrieg brach und befindet sich inzwischen in der 50-sten Auflage. Seit 1997 liegt „Wie ein Stein im Geröll“ auch auf Deutsch vor. Das Schicksal, so scheint es, macht Conxa zu einer Frau, die alles hinnimmt und alles erträgt, so wie ein Stein im Geröll. In Wirklichkeit aber lebt Conxa wohl in einer Welt, wo Menschen von Geburt an nichts als Steine im Geröll waren. 

Ausgangpunkt dieses fast dokumentarischen Romans sind die Erfahrungen ihrer eigenen Großmutter, mir denen Maria Barbal das Schicksal eines ganzen Landstriches in klaren Bildern malt; eines Landstriches, wie aus einer anderen Welt. Eine Welt, in der Maria Barbal aufgewachsen ist und die sie so sehr berührte und prägte, dass sie es geschafft hat eine ganze Generationen von Katalaninnen zu porträtieren, deren Alltag von endloser Arbeit, der Loyalität zur Familie, kurzlebigen Freuden, kleinen Gefühlen und großen Verlusten geprägt war. „Ich wollte es, ohne unnötig in den Wunden zu bohren, so schildern wie ich es erlebt habe.“ 

Maria Barbal: Wie ein Stein im Geröll, Transit Buchverlag, 2007, 14,80 Euro, www.transit-verlag.de
Das Hörbuch zum Roman, gelesen von Bibiana Beglau, Der Audio Verlag, Dav, 2007, 2 CDs, 168 Minuten, 19,99 Euro, www.der-audio-verlag.de 


Carles Porta: Tor. Das verfluchte Dorf

Tod in den Pyrenäen
Ein wahre Geschichte über ein verfluchtes Dorf

Ein Berg, dreizehn Höfe und drei Tote. Alles begann 1896. Damals taten sich die Bewohner aus dem kleinen Pyrenäendorf Tor, in der Nähe von Andorra zusammen und gründeten die „Gesellschaft der Miteigentümer des Berges von Tor“, um die erwirtschafteten Weidegüter vor dem Zugriff von der Gemeinde und dem Staat zu schützen. Die Einwohner verpflichteten sich in einem gemeinsam aufgesetzten Vertrag, das gesamte Jahr über in Tor zu leben, das sollte verhindern, dass Fremde sich an den Besitztümern vergreifen.

Doch der Spanische Bürgerkrieg kam auch bis hierher, viele Bewohner flüchteten vor Armut und Hunger und die Gesellschaft und der Pakt gerieten in Vergessenheit. Zumindest bis zum Jahr 1976. Sansa, einer der Dorfbewohner beginnt mit einem Immobilienspekulanten gemeinsame Sache zu machen, der eine Skistation bauen lassen will. Im Jahr 1995 spricht ein Gericht Sansa zum Alleineigentümer, weil er der einzige ist, der wirklich das ganze Jahr über im Dorf lebt.

Als im Sommer desselben Jahres seine Leiche im eigenen Haus gefunden wird, ist er schon so von den Würmern zerfressen, dass man ihn nur anhand der Kleidung identifizieren kann. Sansa ist der unbeliebteste Dorfbewohner, die Anzahl der Verdächtigen ist hoch.
Ein schauriges Verbrechen, das auf wahren Begebenheiten beruht. Der Journalist Carles Porta, der für das katalanische Fernsehen TV3 arbeitet, wird nach Tor geschickt, um über den ungeklärten Mordfall zu berichten. Eine Schotterpiste führt ihn zu dreizehn Höfen aus Stein, die dort scheinbar friedlich in idyllischer Einöde liegen. Er trifft auf wortkarge und misstrauische Dorfbewohner.

Nach seiner 30-minütigen Reportage 30 Minuts (www.tv3.cat/p30minuts/30Seccio.jsp) bleibt er weiter an dieser tragischen Geschichte. Er versucht herauszufinden weshalb die Menschen sich in einem winzigen Dorf so hassen können, dass sie sogar vor Mord nicht zurückschrecken. Mehr als acht Jahre dauerte seine Recherche. Bis heute ist nicht bekannt, wer Sansas Mörder war. Portas Roman liefert weniger einen spannenden Krimi, als eine wunderbar detaillierte Beschreibung eines abgelegenen Bergdorfes in den Pyrenäen.

Carles Porta: Tor. Das verfluchte Dorf. Aus dem Katalanischen übersetzt von Charlotte Frei, Berlin Verlag, 2007, 22,00 Euro, www.berlinverlag.de

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