INTERVIEW: Mobilität - Herausforderung oder Fluch der Familien

24.08.2009 - Adriana Leidenberger 

Die globalisierte Welt stellt Arbeitnehmer immer häufiger vor die Herausforderung eines Umzugs, nicht selten auch ins Ausland. Dort lebt die Familie in mehrfachen Spannungsverhältnissen zwischen Arbeit – Kultur – Familie und Sozialkontakten bzw. Schule – Kultur – Familie und Freunden.

Der Familie kommt beim Umzug ins Ausland eine besondere Bedeutung im Hinblick auf Unterstützung und Stabilität zu, und zwar für die arbeitenden Familienmitglieder ebenso wie für die eventuell nicht arbeitenden Partner und die Kinder. Oftmals sind es die Kinder der Familie, die im Bezug auf den Umzug am wenigsten Mitspracherecht haben und doch in gleichem Maße betroffen sind. Um jedoch den Auslandsaufenthalt zum Erfolg zu machen, sollten alle Parteien soweit wie möglich einbezogen und unterstützt werden. Wie dies geschehen kann, erklärt uns Frau Dr. Stangl-Taller von der Oö. Landesregierung, Direktion Soziales und Gesundheit, Abteilung Jugendwohlfahrt.

Adriana Leidenberger: In einer durch Mobilität geprägten Gesellschaft wird der Umzug auch für Familien zu einem wichtigen Thema. Doch gerade der Wechsel fällt Kindern und Jugendlichen nicht immer leicht. Können Eltern ihre Kinder auf diesen grundsätzlichen Aspekt des Lebens durch ihre Erziehung vorbereiten? Wenn ja, wie?

Stangl-Taller: Das Umgehen mit Veränderungen, das Sich-Einstellen-Können auf Neues ist eine Fähigkeit, die wir lebenslang brauchen. Von klein auf kann das Umgehen mit Veränderungen behutsam aufgebaut werden durch eine wechselnde Betreuung durch die beiden Hauptbezugspersonen – idealerweise Mutter und Vater – sowie durch weitere Bezugspersonen wie Großeltern, Tanten, Onkel. Jede Person begegnet dem Kind anders, spricht anders, spielt anders mit ihm. Das Kind lernt, sich für eine gewisse Zeit von seiner Hauptbezugsperson zu trennen, sich auf einen anderen Erziehungsstil einzustellen.

Leidenberger: Wie wichtig sind hierbei Strukturen? Bzw. wie wichtig ist es alte Strukturen zu bewahren oder in wiefern ist es wichtig die Strukturen den neuen Lebensbedingungen anzupassen? In unserem konkreten Fall: In wiefern ist es wichtig z.B. sich dem Lebensrhythmus in Spanien anzupassen, oder wäre es wichtiger bei einem Umzug auf Zeit alte Strukturen zu bewahren? (z.B. Zubettgehzeiten)

Stangl-Taller:
Strukturen sind für Kinder grundsätzlich sehr wichtig. Sie geben Halt, Orientierung und Sicherheit. Nur ein in Sicherheit aufgewachsenes Kind wird explorieren, d.h. sich auf Neues einlassen können. Auf den konkreten Fall eines Umzugs umgelegt, bedeutet dies: soviel "alte Strukturen" wie innerfamiliär möglich – z.B. das Beibehalten des üblichen Zubettgeh-Rituals – und soviel "neue Strukturen" wie das Kind verkraften kann, um in seiner neuen sozialen Umgebung kein Außenseiter zu werden. Wenn z. B. die einheimischen Kinder bis 21 Uhr aufbleiben dürfen, die zugezogenen Eltern aber auf der alten Zubettgehzeit von 20 Uhr bestehen, so wird das für die Integration des Kindes in der gleichaltrigen Gruppe nicht förderlich sein.

Leidenberger: Gibt es Altersklassen in denen ein Umzug besonders leicht bzw. im Gegenzug besonders schwer fällt?

Stangl-Taller: Grundsätzlich kann man sagen, je jünger je leichter. Je jünger ein Kind ist, desto bedeutungsvoller ist die Familie. Und die Familie – Eltern, ev. Geschwister - wird ja "mitübersiedelt". In diesem System kann sich das Kind nach wie vor "heimisch" fühlen und kann sich auch dahin zurückziehen, wenn die Umwelt zu fremd wird. Wenn mit zunehmendem Alter des Kindes bis hin zum Jugendlichen die Bedeutung des familiären Systems abnimmt, dafür die Verankerung im Freundeskreis oder sozialen und sportlichen Institutionen zunimmt, so kann der Verlust dieser Bindungen durchaus als schmerzlich erlebt werden. U.U. ist dann auch ein Verbleib des Jugendlichen im Heimatland, z.B. bei Großeltern, zumindest zu thematisieren.

Leidenberger: Was können Eltern im Vorfeld eines Umzuges tun, um ihren Kindern den Umzug schmackhaft zu machen? Was hilft Kindern und was hilft Jugendlichen? Was sind typische Fallstricke?

Stangl-Taller: Was hilft, ist das, was immer hilft: Zuhören, was genau die Befürchtungen und Ängste sind, diese grundsätzlich ernst nehmen und gemeinsam überlegen, wie diese zumindest zu mildern wären. Evtl. auch offen zugeben, dass man als Elternteil ganz ähnliche Befürchtungen hat. Nicht so tun, als ob man für alles eine Lösung hätte. Allein das Aussprechenkönnen dessen, was das Kind innerlich bewegt, und das Gefühl des Ernstgenommen-Werdens sind hilfreich. Fallstricke sind – auch wie immer – ein Bagatellisieren der Einwände, der Ängste, d.h. ein Nicht-Ernst-Nehmen dessen, was im Kind vor sich geht. Und Versprechungen, von denen sie selbst nicht wissen können, ob sie sie halten können.

Leidenberger: In wiefern sollten Kinder bei dem Umzug, zum Beispiel beim Packen einbezogen werden?

Stangl-Taller: Einbeziehen bedeutet aktiv mitwirken und ist enorm wichtig. Wenn die Kinder schon nicht aktiv an der Entscheidung für den Umzug mitwirken konnten, so können sie nun (mit) entscheiden, was von ihren persönlichen Sachen eingepackt wird. Das bedeutet ein Stück Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit.

Leidenberger: Was ist bei der Ankunft im neuen Zuhause zu berücksichtigen?

Stangl-Taller: Ein erster gemeinsamer Rundgang durch das neue Zuhause, bei dem seine Besonderheiten, vielleicht sogar Vorteile und Schönheiten entdeckt werden können, vermittelt das Gefühl des gemeinsamen In-Besitz-Nehmens. Das explizite Aussprechen "Das ist jetzt unser neues Zuhause" verstärkt dieses Gefühl. Spontane Bevorzugungen eines bestimmten Zimmers können berücksichtigt werden.

Leidenberger: Worauf sollten Eltern insbesondere bei einem Umzug auf weitere Distanz bzw. ins Ausland achten?

Stangl-Taller: Ein Umzug ins Ausland kann, muss nicht eine fremde Sprache bedeuten. Wenn in ein fremdsprachiges Land übersiedelt wird, wird häufig nur ein Elternteil diese Sprache beherrschen. Der zweite Elternteil sollte sich auf jeden Fall soweit vorbereiten, dass er sich im Alltag zurechtfinden kann. Durch sein vorbereitendes Lernen gibt er ein gutes Modell für die Kinder ab, er kann dadurch auch sie für die neue Sprache interessieren.
Ein gemeinsames Anschauen von Filmen, Fotos etc. über die Landschaften, Städte, Menschen, Bräuche des neuen Landes schaffen eine gute Basis für ein späteres Wiedererkennen an Ort und Stelle. Wiedererkennen macht Freude.

Leidenberger: Nicht immer haben die Sprösslinge Lust die neue Sprache zu lernen, wenn die Familie ins Ausland zieht. Was sind Ihrer Meinung typische Fehler von Seiten der Eltern und wie machen Eltern es richtig?

Stangl-Taller: Ein typischer Fehler vor dem Umzug wäre, Druck auszuüben, die neue Sprache zu lernen. Zu diesem Zeitpunkt kann es nur ums Motivieren, ums Wecken von Neugierde gehen, evtl. dadurch, dass der Elternteil, der die neue Sprache genauso wenig beherrscht wie die Kinder, diese mit Entdeckerfreude zu lernen beginnt. Ein Elternteil, der quasi wie ein Schulkind wieder die Schulbank drückt, kann Kindern sehr imponieren. An Ort und Stelle wird der "Druck" der Umwelt sowie der Wunsch, dazu zu gehören, einen elterlichen Zwang zur Spracherlernung überflüssig machen. Selbst wenn Kinder eine internationale Schule besuchen, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit im Freizeitbereich genügend Möglichkeiten geben, die neue Sprache sukzessive zu erlernen. Und auch vor Ort können die sprachliche Fortschritte des ebenso lernenden Elternteils und seine Freude darüber durchaus anspornend sein.

Leidenberger: Wie helfen Eltern ihren Kinder bei der Integration in das neue Umfeld? Können Sie es für Kinder und Jugendliche differenzieren?

Stangl-Taller:
Die Integration bei Kindern wird überwiegend von Erwachsenen begleitet, seien es die Eltern, sei es die Kindergärtnerin (oder ihr entsprechendes ausländisches Pendant) oder die Lehrerin für das Grundschulalter. Wenn beide Elternteile die neue Sprache beherrschen, können sie aktiv auf Eltern einheimischer Kinder zugehen und so Begegnungen initiieren, die von den Kindern weitergeführt werden können. Kindern gelingt es sehr gut, sich vorerst über Spiele nonverbal zu verständigen. Bei Jugendlichen wird vor allem der eigene Wunsch, dazu zu gehören, sie aktiv werden lassen. Auch hier sind alle Aktivitäten, die vorerst wenig Sprache benötigen, ideal. Sportliche und künstlerische Fähigkeiten sind ausgezeichnete "Eisbrecher". Gute MitspielerInnen sind immer willkommen. Eine freundliche Aufnahme in der Gruppe der Gleichaltrigen befördert wiederum den Wunsch, sich auch sprachlich ausdrücken zu können.

Leidenberger: Wie wichtig ist der Kontakt zu alten Freunden in der Heimat? Je mehr desto besser? Oder kann eine zu intensive Fixierung auf die alten Freunde Kinder und Jugendliche daran hindern neue Kontakte zu knüpfen? Sehen sie den Kontakt per Internet als Gefahr oder eher als Chance?

Stangl-Taller:
Wie zumeist ist die Balance das Bekömmlichste. Der Kontakt zu alten Freunden ist für den Übergang in der Fremde sicher ganz wichtig. Die Kinder und Jugendlichen wollen ja auch berichten, was sie alles in der Fremde erleben und auch ein wenig angeben. Diese positiven Schilderungen festigen auch eine eigene positive Einstellung zum neuen Land. Natürlicherweise wird – je mehr das Kind sich in der realen Gruppe der Gleichaltrigen wohl fühlt und einlebt – die Häufigkeit der Kontakte in die alte Heimat nachlassen.

Sollte das nicht der Fall sein, so sind es wahrscheinlich nicht diese – telefonischen oder mailmäßigen - Kontakte, die das Kind am Knüpfen neuer realer Kontakte hindern. Ein Kind kann sich z. B. aufgrund seines Temperaments grundsätzlich schwer tun, neue Kontakte zu knüpfen oder es hat tatsächlich schlechte Erfahrungen gemacht, sei es noch in der alten Heimat, sei es bereits in dem neuen Land. Ein behutsames Nachfragen beim Kind selbst, evtl. im Kindergarten und in der Schule können solche Erlebnisse zu Tage bringen. Was braucht das Kind, um leichter auf andere zugehen zu können? Bringt ein Sprachkurs etwas? Gibt die Zugehörigkeit zu einer Sportgemeinschaft einen Rahmen für soziale Kontakte, die sich dann "von alleine" ergeben? Kontakte per Internet zum – durchaus kostengünstigen - Kontakthalten mit alten Freunden sind eine Chance, diese Kontakte tatsächlich bis zu einer eventuellen Rückkehr in die Heimat aufrecht zu erhalten.

Leidenberger: Bei welchen Verhaltensweisen sollten sich Eltern ernsthaft Gedanken machen und Hilfe suchen? (Sowohl im Bezug auf den Kontakt per Internet als auch im Verhalten am neuen Heimatort insgesamt.)

Stangl-Taller: Ein ausschließliches Kontakthalten per Internet kann bedeuten, dass reale Kontakte entweder bewusst gemieden werden, die Anbahnung realer Kontakte eine Überforderung darstellt oder dass es belastende Erfahrungen gegeben hat wie Zurückweisungen, Demütigungen, Verspotten oder dergleichen. Bei Kindern sind auf jeden Fall die Beobachtungen anderer Erwachsener hilfreich: Wie verhält sich das Kind im Kindergarten, in der Schule, im Sportverein etc.? Können die Eltern gemeinsam mit diesen Betreuungspersonen das Kind unterstützen?
Auf jeden Fall sollten Eltern das direkte Gespräch mit dem Kind suchen. Kann es den Eltern anvertrauen, was es ängstigt, was es bewegt und was ihm helfen würde, so braucht es keine professionelle Hilfe.

Hat das Kind kein Vertrauen, dass die Eltern es verstehen werden, weil es aus Erfahrung weiß, dass seine Gefühle bagatellisiert werden, wird es sich möglicherweise nicht öffnen und es wird besser sein, professionelle Hilfe zu suchen.

Was darüber hinaus kindliches Verhalten betrifft, bei welchem sich Eltern ernsthaft Gedanken machen und Hilfe suchen sollten, da ist auf jeden Fall der psychische Rückzug eines Kindes im Sinne eines depressiv wirkenden Verhaltens zu nennen. Zeigt ein Kind keine altersentsprechenden Aktivitäten, keine Freude am Leben, besteht möglicherweise ein so großer Schmerz über den Verlust der Heimat oder den Verlust eines oder auch mehrerer Menschen, dass die Bewältigung dieses Schmerzes soviel Energie abzieht, dass keine Energie mehr bleibt für die Gestaltung des aktuellen Lebens.

Leidenberger: In wiefern können Kinder und Jugendliche von einem Umzug profitieren?

Stangl-Taller: Kinder lernen (gut) Abschied zu nehmen, Lebensabschnitte (gut) hinter sich zu lassen; lernen, mit neuen, u.U. vorerst sogar angstbesetzten Situationen umzugehen, d.h. sie zu meistern. Sie erleben sich selbst als kompetent im Umgang mit neuen Situationen, sie erleben sich selbst als wirksam. Das erhöht ihr Selbstwertgefühl. Es können Freundschaften entstehen, die im späteren beruflichen Leben gut zu nützen sind. Eine Fremdsprache mehr als die anderen zu sprechen, kann sowohl privat wie auch beruflich von Vorteil sein.

Leidenberger:
Gibt es Untersuchungen wie Familien und ihre Kinder von den Auslandsaufenthalten profitieren? Wie sind hier die Kernaussagen?

Stangl-Taller:
Wissenschaftliche Untersuchungen speziell zum Thema "Profitieren von einem Umzug" sind mir keine bekannt.
Ich möchte Ihnen jedoch grundsätzlich – sämtliche Familienthemen betreffend - das ausgezeichnete Online-Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik empfehlen, es ist ideal auch vom Ausland abrufbar. Prof. Dr. Dr. Dr. Fthenakis, der Herausgeber, ist ein international tätiger und anerkannter Fachmann. http://www.familienhandbuch.at/cmain/a_Hauptseite.html


Vielen Dank für das Gespräch.

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