Camp Nou - mehr als ein Stadion
24.03.2014 - Jasmin Buck
Barcelona Ich liebe ihn. Diesen Moment, wenn ich meinen blau-weißen Schal in die Luft hebe, Herbert Grönemeyers „Bochum“ aus den Stadionboxen schallt und meine Elf des Tages den Rasen im Rewirpowerstadion betritt. Ein Gänsehaus-Moment. In der Ostkurve. Jedes Mal. Denn ich weiß: Jetzt kann ich 90 Minuten Vollgas geben. Meinen geliebten VfL anfeuern. Schreien. Singen. Klatschen. Jubeln. Schimpfen. Grölen. Zwischendurch mal einen Schluck aus dem Plastikbecher nehmen. Das herbe Fiege-Pils auf meiner Zunge spüren. Den dumpfen Ton der Trommeln neben mir im Ohr. Gepaart mit dem grellen Fiepen des Megafons ein paar Meter weiter vorn. Sieg oder Niederlage – das ist wichtig, aber nicht entscheidend. Das lernt man mit der Zeit. So als Bochumer. Es ist das Gemeinschaftsgefühl, das Drumherum, das Mittendrinsein, das mich jedes Jahr wieder an die Castroper Straße treibt. Hätte ich einen Wunsch frei: Ich würde ihn mit nach Bochum nehmen. Den gemeinen Fan des FC Barcelona. Und ihm zeigen, wie die Menschen im Ruhrgebiet ein Fußballspiel erleben.
Denn egal wie großartig die Künste von Messi, Neymar und Co. auf dem Rasen auch waren – die Euphorie-Welle bei meinem ersten Besuch im Camp Nou mochte nicht so richtig überschwappen. Das mag aber auch daran liegen, dass der FC Barcelona „Més que un club", also mehr als ein Verein ist. Dieses Motto ist in die Nackenpartie eines jeden verkauften Trikots gedruckt. Und allein dieser Spruch macht schon die besondere Geschichte des Vereins deutlich. Den hob nämlich Hans Gamper, ein in Barcelona lebender Schweizer, per Zeitungsannonce aus der Taufe. Da alle anderen Klubs der Stadt seiner Zeit keine Ausländer zuließen, beschloss Gamper Mitstreiter zu suchen und seinen eigenen Club zu bilden. Mit der offiziellen Gründung am 29. November 1899 schuf er schließlich einen Ort, wo sich Spanier und Ausländer, Katalanen und Nicht-Katalanen, Protestanten und Katholiken hinter einer Fahne vereinen konnten. Und so avancierte Barca zum Symbol. In der Zeit des Franco-Regimes bildete der Klub einen Ort pro-katalanischer, anti-faschistischer Identität.
Viele Jahre später ist der FC Barcelona auch zu einem gigantischen Wirtschaftsunternehmen geworden. Auf den Ramblas, den Flaniermeilen zwischen Hafen und dem Placa de Catalunya, auf denen sich vor allem Touristen entlang schieben, scheint mindestens jeder fünfte ein Messi-Trikot zu tragen. Ein Barca-Devotionalen-Stand reiht sich an den nächsten. Für einen kurzen Moment scheint es so, als ob diese Stadt zum Verein gehört, nicht umgekehrt. Und so ist das Motto „mehr als ein Verein“ heute auch als Vermarktungsstrategie zu verstehen. Ein Jahresumsatz von rund 500 Millionen Euro muss schließlich erst einmal erwirtschaftet werden.
Und das fängt schon bei den Ticketpreisen an. „In den 1920er Jahren hat es hier zwei Orte gegeben, wo man hingegangen ist, um gesehen zu werden: die Oper und das Stadion des FC Barcelona. Die Oper ist geblieben. Den Eintritt ins Stadion können sich aber viele nicht mehr leisten“, sagt Toni Padilla, Sportchef der katalanischen Tageszeitung „Ara“. Er unterscheidet zwischen Barca-Fans, die aus allen Schichten stammen, und den Stadiongehern, die wohlhabend genug sein müssen, um sich den Eintritt noch leisten zu können. Dazu kommen die Touristen. Sie machen laut Padilla rund ein Viertel des Publikums im Camp Nou aus.
Womit er wohl richtig liegt. Denn kurz vor Spielbeginn fachsimpeln die Menschen in dutzenden Sprachen um die Wette und schießen Erinnerungsfotos. Das Geschäft rund ums Stadion brummt. Es gibt Karten am Schalter ab 58 Euro und Schwarzmarkttickets bei den fliegenden Händlern. Das Stadion, das trotz seiner Kapazität von 99 354 Plätzen verhältnismäßig zentral gelegen ist, beeindruckt im Schein der Nacht schon von weitem. Es gibt keine langen Schlangen, keine hektisch umherlaufenden Brezelverkäufer und keine Kontrollen. Niemand wird abgetastet, kein Ordner will einen Blick in Taschen oder Rucksäcke werfen. Bereits hier ahnt man, dass die folgenden 90 Minuten atmosphärisch anders werden als in Bochum. Oder Dortmund. Oder Gelsenkirchen.
Dann wird man überwältigt. Von der schieren Größe und dem 50er Jahre Charme des Stadions. Obwohl 1994 renoviert, wirken die grauen rohen Betonkonstruktionen im Inneren wie eine Reminiszenz an jene Zeiten, als hier noch László Kubala und Luis Suárez spielten. In einer Zeit, als Viererkette und Doppel-Sechs noch Fremdwörter im Fußballvokabular waren. Es gibt keine überdimensionierten Videowürfel, keine hochgerüsteten Fast-Food-Imbisse, keinen überdrehten Stadionsprecher, der zum kollektiven Mitfiebern animiert. Doch der vielleicht spannendste Moment ist der, wenn man das erste Mal bewusst tief durch die Nasen atmet: Vom bekannten Gemisch aus Alkohol, Rauch und Bratfett keine Spur. Man nimmt lediglich einen leicht würzig-mediterranen Duft war. Subtil, angenehm, anders.
Dann geht es los. Die Spieler betreten den Rasen. Es gibt das bewährte Foto mit Einlaufkindern und anderen wichtigen Menschen, die niemand kennt. Eine Stimme aus dem Off liest die Namen der Protaginsten vor. Parallel dazu wird die Vereinshymne eingeblendet. Die Einheimischen singen sofort mit. Die Touristen stimmen beim Refrain mit ein: „Barca, Barca, Barcaaaaa!“ Und der Fanblock? Gerade einmal zweihundert Fans singen und schwenken Fahnen hinter dem Tor. Viele tragen das Auswärtstrikot, das gelb-rot gestreift ist – die Farben Kataloniens. In der riesigen Menschenmasse wirkt die Fangruppe fast verloren. Nach dem Rauswurf der rechtsextremen „Boixos Nois“ („Verrückte Jungs“) unter dem damaligen Präsidenten Joan Laporta vor zehn Jahren hat sich bis heute keine angemessene Fanszene mehr gebildet. Das Gute: Ultras oder Hooligans mit Bengalos sucht man vergebens. Sie würden in dem Fußballtempel auch wie Außerirdische wirken. Das Klatschen, Raunen und die Blitzlichter der Kameras dominieren die Atmosphäre. Es ist fast so, als säße man in einem Theater. Zwar brandet sobald sich Barca dem Tor nähert ohrenbetäubender Jubel auf. Doch sobald der Ball im Mittelfeld hin- und hergeschoben wird, kehrt die Stille zurück. Keine minutenlangen Gesänge, keine Megafone in der Fankurve, keine Ekstase.
Dann zeigt die Stadionuhr 17 Minuten und 14 Sekunden Spielzeit an. „Unabhängigkeit, Unabhängigkeit“, skandiert das Publikum von allen Seiten. Damit wird an den 11. September 1714 erinnert. Damals eroberten französische Truppen die Stadt – mit dramatischen Folgen für die katalanische Autonomie. Und so ist der spürbare Wunsch nach einem eigenen Staat auch im Camp Nou zu spüren. Eine Volksabstimmung zu dieser Frage ist in diesem Jahr geplant. Regierung und Justiz in Madrid lehnen das Referendum aber als verfassungswidrig ab. Meinungsumfragen zufolge würden mehr als 50 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit Kataloniens stimmen. Skurril dabei ist: Ein katalanisches Nationalteam gibt es bereits seit mehr als 100 Jahren. Fifa und Uefa haben es aber nie anerkannt. Im Falle der Unabhängigkeit Kataloniens wäre das Geschichte. Und Barca wäre Teil einer katalanischen Liga? „Wahrscheinlich nicht“, sagt Toni Padilla. Dafür gebe es nicht genügend Vereine. Doch eine spanisch-katalanische Liga käme einem politischen Drahtseilakt gleich. Die Alternative wäre die Wiederbelebung einer echten Europaliga, in der die besten Teams wöchentlich gegeneinander spielen. Aber all das ist bislang nur bloße Theorie – und von den meisten Fußballfans nicht wirklich gewollt. In der Realität strömen die Menschen nach einem Sieg ihrer Elf zufrieden in die spanische Nacht. Dabei herrscht eine Disziplin, die man in deutschen Stadien wohl selten findet. Rund 90 000 Menschen machen sich auf den Weg zu ihren Parkplätzen und U-Bahnstationen. Man hört kein Gegröle, keine Freudengesänge, keine Möchtegern-Diskussionen.
Und so kommt ein Ausflug ins größte Fußballstadion Europas einem politisch-kulturellen Theaterbesuch gleich. Das sollte man wissen, wenn man ein Ticket kauft. Und was würde der gemeine Barca-Fan wohl sagen, wenn er wie gewünscht nach 90 Minuten „anne Castroper“ nach Katalonien zurückkehrt? „Die spinnen, die deutschen Fußballfans.“ Ich finde, das ist gut so!
Zur Autorin:
Jasmin Buck hat an einem Austauschprogramm des Goethe-Instituts teilgenommen. Für vier Wochen war sie Gastjournalistin bei der katalanischen Tageszeitung "Ara". Seit März ist die 27-Jährige wieder für ihre Heimatzeitung, die Rheinische Post, im Einsatz.