Mehr oder weniger ein Klub

15.05.2008 - Julia Macher - Journalistin 

Schade eigentlich, dass es im Profisport kein Anrecht auf Sabbaticals gibt. Ein Jahr Pause mit Zeit für Meditationsseminare und lange Gespräche zur Selbstfindung wäre das einzige, was dem FC Barcelona derzeit aus der Krise helfen könnte. 
Dass die Saison für die Katalanen titellos zu Ende geht und sie mit etwas Pech noch vom dritten auf den vierten Tabellenplatz abrutschen, könnte mit viel gutem Willen noch unter der üblichen sportkonjunkturellen Schwankungen verbucht werden. Aber die Art und Weise, wie sich der FC Barcelona in diesem Jahr selbst demontiert, ist schon ziemlich einzigartig. Und da haben alle kräftig mitgemacht: Publikum, Presse und Präsident inklusive. 
Joan Laporta hat alle Außenauftritte benutzt, um sich für einen Posten bei CiU oder am besten gleich als künftiger katalanischer Außenminister zu qualifizieren („Ich komme aus diesem kleinen Land zwischen Frankreich und Spanien.“) , was alle, für die der FC Barcelona keine Ersatzrepublik ist, unheimlich nervte. Um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, hat er es sich mit seinem „Sie verleumden uns“-Geblöke vor den Penyas mit den aficionados und der Presse verscherzt. 
Die Sportpresse wiederum hat in einer Art konzertierten Aktion mit Klubleitung und unter tatkräftiger Mithilfe von ihm selbst Klubikone Ronaldinho so in Grund und Boden geschrieben, dass der Ex-Weltstar erst sofort verkauft werden musste und jetzt mangels passender Offerten eventuell nicht mehr verkauft werden kann. 
Und das Publikum im Camp Nou gab in dieser Saison wieder einmal den römischen Despoten, der mit tödlich gelangweilter Miene in der Arena sitzt und den Daumen senkt – in den letzten Wochen ersetzte man die Geste durch etwas lebhafteres „mit weißen Taschentüchern wedeln“. Ich erwarte nun wirklich nicht, dass Fangesänge das Stadion regelmäßig zum vibrieren bringen, aber ab und zu mehr Begeisterung oder eine "positive Grundeinstellung" seinem Verein gegenüber wäre ganz hübsch. Schließlich sagt man doch vom FC Barcelona, er sei „més que un club“, „mehr als ein Klub“. 
Der einzige, der in dem desolaten Panorama eine ganz gute Figur machte, war Coach Frank Rijkaard. Und er war der erste der gehen muss. Traurig war es, den Holländer bei seinem letzten Spiel so einsam und verlassen und den Tränen nah auf seiner Bank sitzen zu sehen... 
Jetzt ist es ja nicht unüblich, dass Trainer gefeuert werden, wenn Erfolge ausbleiben und vielleicht war Rijkaard wirklich ein besserer Psychologe als Stratege. Aber einen Abschied, in dem der Applaus für ihn fast unterging im an die Tribüne gerichteten Pfeifkonzert, hat der Mann, dem der Verein zwei Meisterschaften und einen Champions-League-Pokal verdankt, nicht verdient. 
Jetzt stimmen alle probarcelonesischen Medien Loblieder auf den „Neuen“ an, auf Pep Guardiola, den bisherigen B-Mannschaftstrainer mit einer angeblich sehr toughen Arbeitsmoral. Aber ganz so einfach wird’s auch für den Ex-Kapitän der legendären Cruyff’schen Elf nächste Saison nicht. Es bleibt ihm viel Glück zu wünschen bei einem Verein, der in dieser Saison vor allem eines nicht geschafft hat: mehr oder weniger ein Klub zu sein.

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